Er fühlte sich zu bestimmten Zimmern hingezogen. Wenn er sie betrat, fand er in jedem eine Person aus seinem vergangenen oder gegenwärtigem Leben.
Er begegnete Scott in mehreren Zimmern und führte unbefriedigende, zusammenhanglose Unterhaltungen mit ihm, die alle mit einer unvernünftigen Feindseligkeit von Seiten Scotts endeten. Unterschiede in Scotts Alter machten den Alptraum noch schlimmer: manchmal war er ein mürrischer Sechzehnjähriger und manchmal zehn oder erst vier oder fünf. Aber er war in jeder Inkarnation entfremdet, kalt, reizbar und voll verzehrendem Haß. »Das ist nicht richtig, das stimmt nicht, so bist du nicht gewesen, als du jünger warst«, sagte Sam einem siebenjährigen Scott, und der Junge gab eine obszöne Antwort.
Scott war in jedem Zimmer, ohne Rücksicht auf sein Alter, von riesigen Postern von Black Metal-Rockern mit schwarzer Lederkleidung und Ketten umgeben, die satanische Symbole auf Stirn oder Handflächen zur Schau stellten. Das Licht war flackernd und seltsam. Sam sah in einer dunklen Ecke etwas lauern, eine Kreatur, von der Scott wußte, die der Junge nicht fürchtete, die Sam aber eine Heidenangst machte.
Aber auch dieser Alptraum weckte ihn nicht.
In anderen Zimmern dieses surrealistischen Hotels fand er sterbende Menschen, jedesmal dieselben - Arnie Taft und Carl Sorbino. Sie waren zwei Agenten, mit denen er gearbeitet hatte und die vor seinen Augen erschossen worden waren.
Der Eingang zu einem Zimmer war eine Autotür - die funkelnde Tür eines blauen 54er Buick, um genau zu sein. Dahinter fand er eine enorme Kammer mit grauen Wänden, in dem sich Fahrersitz, Lenkrad und Armaturenbrett des Autos befanden, und sonst nichts, gleich Teilen eines prähistorischen Skeletts, die auf einer weiten Fläche öden Sandes lagen. Eine grüngekleidete Frau saß am Steuer, sie hatte den Kopf von ihm abgewandt. Er wußte natürlich, wer sie war, und er wollte das Zimmer auf der Stelle verlassen, aber er konnte es nicht. Er wurde sogar zu ihr hingezogen. Er setzte sich neben sie, und plötzlich war er sieben Jahre alt, wie am Tag des Unfalls, aber er sprach mit der Stimme des Erwachsenen. »Hallo, Mom.« Sie drehte sich zu ihm um und zeigte, daß die rechte Seite ihres Gesichts eingedrückt war, ein Auge aus der Höhle gequetscht und Knochen durch die aufgeplatzte Haut ragten. In der Wange konnte man abgebrochene Zähne sehen, daher schenkte sie ihm nur ein halbes teuflisches Grinsen.
Und plötzlich waren sie, in der Zeit zurückgeschlendert, in ihrem wirklichen Auto. Vor ihnen auf der Autobahn ra-ste der Betrunkene in seinem weißen Lieferwagen auf sie zu, raste über die durchgezogene, doppelte gelbe Linie und mit überhöhter Geschwindigkeit in ihre Richtung. Sam schrie auf - »Mom!« -, aber sie konnte dem Lieferwagen diesesmal ebensowenig ausweichen wie vor fünfunddreißig Jahren. Er raste auf sie zu, als wären sie ein Magnet, und prallte frontal in sie hinein. Er dachte, daß es so im Zentrum einer Atombombenexplosion sein mußte: ein gewaltiges Dröhnen, gefolgt vom Kreischen reißenden Metalls. Alles wurde schwarz. Als er dann wieder aus der Dunkelheit emporschwamm, war er im Wrack eingeklemmt. Er befand sich seiner toten Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenüber und sah in ihre leere Augenhöhle. Er fing an zu schreien.
Auch dieser Alptraum weckte ihn nicht.
Danach war er in einem Krankenhaus, wie nach dem Unfall, denn das war das erste Mal von insgesamt sechs gewesen, als er fast gestorben wäre. Aber er war kein Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, und er lag auf dem Operationstisch und wurde operiert, ein Notfall, weil ihm während derselben Schießerei, bei der Carl Sorbino gestorben war, in die Brust geschossen worden war. Während sich das Ärzteteam an seinem Körper zu schaffen machte, schwebte er aus seinem Körper heraus und beobachtete sie, wie sie an seinem Leichnam arbeiteten. Er war erstaunt, aber nicht ängstlich, genau wie er sich gefühlt hatte, als es kein Traum gewesen war.
Als nächstes war er in einem Tunnel und rast grellem Licht entgegen, auf die andere Seite zu. Diesesmal wußte er, was er am anderen Ende finden würde, denn er war schon einmal dort gewesen, im wirklichen Leben, nicht im Traum. Er hatte entsetzliche Angst davor, wollte es nicht noch einmal durchmachen, wollte nicht hinsehen, nicht ins Jenseits. Aber er bewegte sich schneller, schneller, schneller durch den Tunnel, schoß durch ihn hindurch, und sein Entsetzen wuchs parallel zur Geschwindigkeit. Daß er sich noch einmal ansehen mußte, was auf der anderen Seite lag, war schlimmer als seine Traumkonfrontationen mit Scott, schlimmer als das eingedrückte einäugige Gesicht seiner Mutter, unendlich viel schlimmer (schneller, schneller), unerträglich, und daher begann er zu schreien (schneller) und schreien (schneller) und schreien...
Dieser Traum weckte ihn.
Er fuhr kerzengerade auf dem Sofa hoch und unterdrückte den Schrei gerade noch, ehe er ihm über die Lippen kommen konnte.
Einen Augenblick später merkte er, daß er nicht allein in dem dunklen Wohnzimmer war. Er hörte, wie sich vor ihm etwas bewegte, und er bewegte sich gleichzeitig, riß den 38er Revolver aus dem Halfter, das er abgenommen und neben das Sofa gelegt hatte.
Es war Moose.
»He, Junge.«
Der Hund wuffte leise.
Sam streckte die Hand aus, um den dunklen Kopf zu tätscheln, aber der Hund ging schon wieder weg. Die Nacht war nur unwesentlich weniger schwarz als das Innere des Hauses, daher waren die Fenster nur als verschwommene, graue Rechtecke zu sehen. Moose ging zu einem an der Seite das Hauses, legte die Pfoten auf den Sims und drückte die Schnauze an die Scheibe.
»Mußt du hinaus?« fragte Sam, obwohl sie ihn kurz vor dem Zubettgehen zehn Minuten hinausgelassen hatten.
Der Hund reagierte nicht, sondern blieb seltsam steif am Fenster stehen.
»Ist etwas da draußen?« fragte Sam und wußte die Antwort noch bevor er die Frage zu Ende gesprochen hatte.
Er durchquerte das dunkle Zimmer rasch und vorsichtig. Er stieß gegen Möbel, warf aber nichts um, und gesellte sich zu dem Hund am Fenster.
In dieser Stunde vor der Dämmerung schien die regengepeitschte Nacht am dunkelsten zu sein, aber Sams Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt. Er konnte die Seitenwand des Nachbarhauses sehen, die nur sechs Meter entfernt war. Der steil ansteigende Boden zwischen den beiden Häusern war nicht mit Gras bepflanzt, sondern mit einer Vielzahl von Büschen und einigen Pinien, die alle im böigen Wind schwankten und bebten.
Er sah die beiden Schreckgespenster schnell, weil sie sich gegen die Windrichtung bewegten und daher einen deutlichen Kontrast gegen den Sturmtanz der Vegetation bildeten. Sie waren beide etwa drei Meter vom Fenster entfernt und hasteten den Hang abwärts zur Conquistador. Sam konnte zwar keine Einzelheiten von ihnen erkennen, aber er sah an ihren gebückten Bewegungen und dem schlurfenden und doch seltsamen Gang, daß sie keine gewöhnlichen Menschen waren.
Als sie neben einer der größeren Pinien stehenblieben, sah einer zu Talbots Haus, und Sam erblickte die sanft leuchtenden, vollkommen fremden Bernsteinaugen. Er war einen Augenblick gebannt, aber nicht so sehr starr vor Angst, sondern vor Staunen. Dann wurde ihm klar, daß das Geschöpf direkt ins Fenster zu starren schien, als könnte es ihn sehen, und plötzlich sprang es direkt auf ihn zu.
Sam duckte sich unter den Sims, drückte sich an die Wand unter dem Fenster und zog Moose mit sich herunter. Der Hund schien die Gefahr zu spüren, denn er bellte oder winselte nicht und leistete keinen Widerstand, sondern lag mit dem Bauch auf den Boden gepreßt da und ließ sich still dort festhalten.