»Ja, bitte, Pater. Ich bin am Verhungern. Ich habe seit gestern nachmittag nur zwei Schokoriegel gegessen.«
»Nur Schokoriegel?« Er seufzte. »Schokolade ist eine Gnade Gottes, aber sie ist auch ein Werkzeug, das der Teufel benützt, um uns in Versuchung zu führen - die Versuchung der Völlerei.« Er strich sich über den runden Bauch. »Ich selbst habe diese spezielle Gnade oft genossen, aber ich wäre niemals« - er betonte das Wort >niemals< übertrieben und blinzelte ihr zu - »niemals, nicht einmal dem Ruf des Teufels nach Völlerei gefolgt! Aber sieh her, wenn du nur Schokolade ißt, werden dir die Zähne ausfallen. Daher... ich habe eine Menge Würste, die ich mit dir teilen kann. Ich wollte mir auch ein paar Eier machen. Möchtest du auch ein paar Eier?«
»Ja, bitte.«
»Und Toast?«
»Ja.«
»Wir haben ein paar herrliche Zimtbrötchen hier auf dem Tisch. Und natürlich die heiße Schokolade.«
Chrissie schluckte die beiden Aspirin mit Orangensaft.
Während er sorgfältig Eier in die heiße Bratpfanne schlug, sah Pater Castelli sie wieder an. »Geht es dir gut?«
»Ja, Pater.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Jetzt. Jetzt geht es mir gut.«
»Es ist schön, Gesellschaft beim Frühstück zu haben«, sagte er.
Chrissie trank den restlichen Saft.
Er sagte: »Wenn Pater O'Brien mit der Messe fertig ist, möchte er nie etwas essen. Nervöser Magen.« Er kicherte. »Sie haben alle Probleme mit dem Magen, wenn sie neu sind. In den ersten Monaten haben sie da oben auf dem Altar eine Heidenangst. Weißt du, es ist so eine heilige Pflicht, die Messe zu lesen, und die jungen Priester haben immer Angst, sie könnten sie auf eine Weise vermasseln, die... oh, ich weiß nicht... die eine Beleidigung Gottes wäre, schätze ich. Aber Gott läßt sich nicht so leicht beleidigen. Wenn er das täte, hätte er sich die menschliche Rasse schon längst vom Hals geschafft! Alle jungen Priester kommen irgendwann einmal zu dieser Erkenntnis, dann geht es ihnen gut. Dann kommen sie von der Messe zurück und sind bereit, das Lebensmittelkontingent der ganzen Woche bei einem einzigen Frühstück zu verschlingen.«
Sie wußte, daß er nur redete, um sie zu beruhigen. Er hatte bemerkt, wie durcheinander sie war. Er wollte sie beruhigen, damit sie sich auf gelassene, vernünftige Weise miteinander unterhalten konnten. Das störte sie nicht. Sie brauchte es, beruhigt zu werden.
Nachdem er alle vier Eier aufgeschlagen hatte, wendete er die Würstchen mit einer Gabel, dann machte er eine Schublade auf und holte eine Kelle heraus, die er zur Eierpfanne legte. Während er Teller, Messer und Gabeln auf den Tisch legte, sagte er: »Du siehst mehr als nur ein wenig ängstlich aus, Chrissie, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen. Du kannst dich jetzt beruhigen. Wenn ein junger Priester nach so vielen Jahren des Trainings und der Ausbildung Angst haben kann, bei der Messe einen Fehler zu machen, dann kann jeder vor allem Möglichen Angst haben. Die meisten Ängste denken wir uns selber aus, und wir können sie mühelos loswerden, wenn wir sie uns vergegenwärtigen.«
»Diese vielleicht nicht«, sagte sie.
»Wir werden sehen.«
Er lud Eier und Würste von den Pfannen auf die Teller.
Die Welt schien zum erstenmal seit vierundzwanzig Stunden wieder in Ordnung zu sein. Während Pater Castelli das Essen auf die Teller schaufelte und sie aufforderte zuzugreifen, seufzte Chrissie vor Erleichterung und Hunger.
8
Shaddack ging für gewöhnlich erst nach der Dämmerung zu Bett, daher gähnte er dienstagmorgen um sieben Uhr und rieb sich die Augen, während er durch Moonlight Cove fuhr und nach einer Stelle suchte, wo er den Lieferwagen verstecken und ein paar Stunden wohlbehalten und sicher vor Loman Watkins schlafen könnte. Der Tag war bewölkt, grau und trüb, trotzdem tat das Sonnenlicht seinen Augen weh.
Er erinnerte sich an Paula Parkins, die im September von Regressiven in Stücke gerissen wjrden war. Ihr sechzig Ar großes Grundstück lag abgeschieden am ländlichsten Ende der Stadt. Die Familie der Toten - in Colorado - hatte es über den hiesigen Makler zum Verkauf angeboten, aber es war nicht verkauft worden. Dorthin fuhr er, parkte in der leeren Garage, machte den Motor aus und zog das große Tor hinter sich zu.
Er aß ein Schinkensandwich und trank eine Cola. Er wischte sich Krümel von den Fingern, rollte sich auf den Decken hinten im Wagen zusammen und wollte schlafen.
Er litt nie an Schlaflosigkeit, was vielleicht daran lag, daß er sich seiner Rolle im Leben so sicher war, seines Schicksals, und er sich nicht um das Morgen zu sorgen brauchte. Er war durch und durch davon überzeugt, daß er die Zukunft nach seinen Wünschen gestalten konnte.
Shaddack hatte sein ganzes Leben lang Zeichen gesehen, wie einmalig er war, Omen, die seinen letztendlichen Triumph bei jedem seiner Unterfangen prophezeiten.
Anfangs waren ihm diese Zeichen nur aufgefallen, weil Don Runningdeer sie ihm gezeigt hatte. Runningdeer war Indianer gewesen - von welchem Stamm, konnte Shaddack nie herausfinden -, der daheim in Phoenix als Gärtner und Faktotum für den Richter, Shaddacks Vater, gearbeitet hatte. Runningdeer war schlank und schnell gewesen, mit ledri-gem Gesicht, Muskelsträngen und schwieligen Händen; seine Augen waren stechend und schwarz wie Öl gewesen, unglaublich fesselnde Augen, vor denen man sich manchmal abwenden mußte... und vor denen man sich manchmal nicht abwenden konnte, wie sehr man es auch wünschen mochte. Der Indianer interessierte sich für den jungen Tommy Shaddack und ließ ihn manchmal im Garten oder bei Reparaturen im Haushalt helfen, wenn weder der Richter noch Tommys Mutter anwesend waren und mißbilligen konnten, daß ihr Junge gewöhnliche Arbeiten erledigte oder sich mit gesellschaftlich Niedergestellten< einließ. Was bedeutete, daß er im Alter von fünf bis zwölf Jahren fast ständig mit Runningdeer zusammen war (das war die Zeit, die der Indianer für den Richter gearbeitet hatte), weil seine Eltern fast nie da waren und es nicht sehen und Einwände erheben konnten.
Eine seiner frühesten deutlichen Erinnerungen war die an Runningdeer und das Zeichen der Schlange, die sich selbst verzehrte.
Er war fünf Jahre alt und saß mit einer Sammlung Tonka-Spielsachen auf der hinteren Veranda des großen Hauses in Phoenix, aber er interessierte sich mehr für Runningdeer als für die Miniaturlastwagen und Autos. Der Indianer hatte Jeans und Halbstiefel an, aber in der grellen Mittagssonne kein Hemd, und er schnitt die Hecken mit einer riesigen Schere mit Holzgriffen. Die Muskeln in Runningdeers Rücken, Schultern und Armen arbeiteten geschmeidig, streckten und spannten sich, und Tommy war fasziniert von der Körperkraft des Mannes. Tommys Vater, der Richter, war mager, knochig und blaß. Tommy selbst war mit seinen fünf Jahren schon deutlich seines Vaters Sohn, hell und groß für sein Alter und erschreckend dünn. An dem Tag, als er Tommy die Schlange zeigte, sie sich selbst verzehrte, arbeitete Runningdeer gerade zwei Wochen für die Shaddacks, und Tommy fühlte sich zunehmend zu ihm hingezogen, ohne den Grund dafür zu verstehen. Runningdeer lächelte ihm oft zu und erzählte ihm komische Geschichten von sprechenden Koyoten und Klapperschlangen und anderen Tieren der Wüste. Manchmal nannte er Tommy >Kleiner Häuptlinge das war der erste Spitzname, den ihm jemand gegeben hatte. Sein Mutter nannte ihn immer Tommy oder Tom; der Richter nannte ihn Thomas. Und so saß er zwischen seinen Tonka-Spielzeugen, mit denen er immer seltener spielte, bis er schließlich ganz damit aufhörte und Runningdeer wie hypnotisiert beobachtete.