Danach unterhielten sie sich oft darüber, so sehr auf eine Aufgabe fixiert und so zuverlässig wie eine Maschine zu sein, besonders wenn sie Kaktusplätzchen aßen. Als er in die Pubertät kam, träumte Tommy immer seltener von sexuellen Dingen, sondern zunehmend von Bildern des Mondfalken und von Menschen, die äußerlich normal aussahen, im Inneren aber nur aus Kabeln und Transistoren und klickenden Metallschaltern bestanden.
Im Sommer seines zwölften Jahres, nachdem er sieben Jahre in der Gesellschaft des Indianers verbracht hatte, erfuhr der Junge, was mit Runningdeers Halbbrüdern passiert war. Wenigstens einen Teil davon. Den Rest reimte er sich zusammen.
Er und der Indianer saßen auf der Veranda, aßen zu Mittag und beobachteten die Regenbogen, die im Nebel der Rasensprenger auftauchten und wieder verschwanden. Er hatte seit jenem Tag an der Werkbank vor mittlerweile mehr als eineinhalb Jahren mehrmals nach Runningdeers Brüdern gefragt, aber der Indianer hatte nie darauf geantwortet. Dieses-mal jedoch sah Runningdeer zu den fernen, dunstigen Bergen und sagte: »Ich erzähle dir ein Geheimnis.«
»Gut.«
»So geheim, wie die Zeichen, die du bekommen hast.«
»Klar.«
»Ein paar weiße Männer, Collegejungs, betranken sich und fuhren in der Gegend herum, sie suchten vielleicht nach Frauen, aber ganz bestimmt nach Ärger. Sie trafen meine Brüder zufällig auf dem Parkplatz eines Restaurants. Einer meiner Brüder war verheiratet, und seine Frau war bei ihm, und die Collegejungs fingen an, Verspottet-die-Indianer zu spielen, aber die Frau meines Bruders gefiel ihnen auch sehr gut. Sie wollten sie und waren so betrunken, daß sie dachten, sie könnten sie einfach nehmen. Es kam zum Kampf. Sie waren fünf gegen meine zwei Brüder, und sie haben einen mit einer Eisenstange totgeschlagen. Der andere wird nie wieder gehen können. Sie haben die Frau meines Bruders mitgenommen und sie mißbraucht.«
Diese Enthüllung schockierte Tommy.
Schließlich sagte der Junge: »Ich hasse weiße Männer.«
Runningdeer lachte.
»Wirklich«, sagte Tommy. »Was wurde aus den Jungs, die es getan haben? Sind sie jetzt im Gefängnis?«
»Kein Gefängnis.« Runningdeer lächelte den Jungen an. Ein grimmiges, humorloses Lächeln. »Ihre Väter waren mächtige Männer. Geld. Einfluß. Daher sprach der Richter sie wegen >Mangel an Beweisen< frei.«
»Mein Vater hätte Richter sein sollen. Er hätte sie nicht da-vonkommenlassen. «
»Nicht?« sagte der Indianer.
»Niemals.«
»Bist du ganz sicher?«
Tommy sagte unbehaglich: »Nun... klar bin ich sicher.«
Der Indianer schwieg.
»Ich hasse weiße Männer«, sagte Tommy, aber diesesmal mehr, um die Gunst des Indianers zu erringen, als aus innerster Überzeugung.
Runningdeer lachte wieder und tätschelte Tommys Hand.
In eben diesem Sommer, gegen Ende August, kam Run-ningdeer an einem sengend heißen Tag zu Tommy und sagte mit geheimnisvoller, vielsagender Stimme: »Heute nacht ist Vollmond, Kleiner Häuptling. Geh in den Garten und betrachte ihn eine Weile. Ich glaube, heute wird das Zeichen schließlich kommen, das bedeutendste Zeichen von allen.«
Als der Mond aufgegangen war, kurz nach Mitternacht, ging Tommy hinaus und stand am Rand des Pools, wo Run-ningdeer ihm vor sieben Jahren die Schlange gezeigt hatte, die sich selbst verzehrte. Er sah lange Zeit zur Mondscheibe hinauf, deren langgezogene Reflektion auf dem Wasser im Swimming-pool schimmerte. Es war ein aufgedunsener gelber Mond, der tief am Himmel hing und riesig groß war.
Wenig später kam der Richter auf die Veranda und rief ihn, und Tommy sagte: »Hier.«
Der Richter kam zu ihm an den Pool. »Was machst du hier, Thomas?«
»Ich beobachte... «
»Was?«
In diesem Augenblick sah Tommy den Umriß des Falken vor dem Mond. Er hatte jahrelang gesagt bekommen, daß er ihn eines Tages sehen würde, war auf ihn und alles, was er bedeutete, vorbereitet worden, und plötzlich war er da, im Flug einen Augenblick vor der runden Mondlampe erstarrt.
»Da!« sagte er und vergaß einen Moment, daß er nur dem Indianer vertrauen konnte.
»Was da?« fragte der Richter.
»Hast du es nicht gesehen?«
»Nur den Mond.«
»Du hast nicht hingeschaut, sonst hättest du ihn gesehen.«
»Was gesehen?«
Daß sein Vater das Zeichen nicht gesehen hatte, war für Tommy ein weiterer Beweis, daß er etwas Besonderes war und das Zeichen nur ihm gegolten hatte - was ihn daran erinnerte, er konnte seinem eigenen Vater nicht trauen. Er sagte: »Äh... eine Sternschnuppe.«
»Du stehst hier draußen und hältst nach Sternschnuppen Ausschau?«
»Eigentlich sind sie Meteore«, sagte Tommy, der zu schnell plapperte. »Weißt du, heute nacht soll die Erde durch einen Meteorgürtel ziehen, daher kann man viele sehen.«
»Seit wann interessierst du dich für Astronomie?«
»Interessiert mich nicht.« Tommy zuckte die Achseln. »Ich wollte nur wissen, wie so etwas aussieht. Ziemlich langweilig.« Er wandte sich vom Pool ab und ging zum Haus zurück, und der Richter folgte ihm nach einem Augenblick.
Am nächsten Tag, Mittwoch, erzählte der Junge Running-deer vom Mondfalken. »Aber er hat mir keine Botschaft gebracht. Ich weiß nicht, was die großen Geister von mir verlangen, damit ich mich als würdig erweise.«
Der Indianer lächelte und sah ihn eine unbehaglich lange Zeit schweigend an. Dann sagte er: »Kleiner Häuptling, darüber werden wir uns beim Essen unterhalten.«
Miß Karval hatte mittwochs frei, Runningdeer und Tommy waren ganz allein im Haus. Sie saßen beim Mittagessen nebeneinander auf der Veranda. Der Indianer schien nur Kaktusplätzchen mitgebracht zu haben, und Tommy hatte auch keinen Appetit auf etwas anderes.
Der Junge aß die Plätzchen schon lange nicht mehr wegen ihres Geschmacks, sondern wegen der Wirkung. Und die war im Laufe der Jahre immer stärker geworden.
Bald befand sich der Junge in dem erstrebenswerten traumähnlichen Zustand, in dem die Farben leuchtend und die Geräusche laut und die Gerüche durchdringend und alle Dinge tröstlich und ansprechend waren. Er und der Indianer unterhielten sich fast eine Stunde, und am Ende dieses Ge -sprächs begriff Tommy, daß die großen Geister von ihm erwarteten, er solle in vier Tagen seinen Vater umbringen, am Sonntagmorgen. »Das ist mein freier Tag«, sagte Runningdeer, »das heißt, ich bin nicht da und kann dich nicht unterstützen. Aber das ist wahrscheinlich die Absicht der großen Geister - daß du dich ganz allein als würdig erweisen mußt. Aber wir haben wenigstens die nächsten Tage, es zu planen, damit du am Sonntag vorbereitet bist.«
»Ja«, sagte der Junge verträumt. »Ja. Wir planen es gemeinsam.«
Am Spätnachmittag kam der Richter von einer geschäftlichen Sitzung im Anschluß an eine Gerichtsverhandlung nach Hause. Er beschwerte sich über die Hitze und ging sofort nach oben, um zu duschen. Tommys Mutter war eine halbe Stunde vorher heimgekommen. Sie saß in einem Sessel im Wohnzimmer, hatte die Füße auf einen Polsterschemel gelegt und las die neueste Ausgabe von Town & Coun-try; dazu trank sie einen, wie sie es nannte »Cocktail vor der Cocktailstunde<. Sie sah kaum auf, als der Richter herein-kam und verkündete, daß er duschen würde.
Kaum war sein Vater nach oben gegangen, ging Tommy in die Küche und holte ein Fleischmesser vom Regal beim Herd.
Runningdeer war draußen und mähte den Rasen.
Tommy ging ins Wohnzimmer, lief zu seiner Mutter und küßte sie auf die Wange. Der Kuß überraschte sie, aber noch mehr das Messer, das er ihr dreimal in die Brust stieß. Er ging mit demselben Messer nach oben und rammte es dem Richter in den Magen, als dieser aus der Duschkabine herauskam.