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Chrissie war ziemlich fest davon überzeugt, daß Godiva schneller als jeder Mensch oder jedes Tier laufen konnte, abgesehen von einem besseren Pferd, aber sie wußte, daß das Pferd es nicht mit dem Auto aufnehmen konnte. Tucker würde sie innerhalb von Sekunden eingeholt haben. Sie sah das Gesicht des Mannes in der Erinnerung deutlich vor sich: die knochige Stirn, die spitze Nase, die tiefliegenden Augen, die harten schwarzen Murmeln glichen. Er hatte auch diese Aura unnatürlicher Vitalität um sich gehabt, die Chrissie manchmal bei ihren Eltern bemerkt hatte - überschüssige, nervöse Energie, verbunden mit diesem seltsam hungrigen Ausdruck. Sie wußte, er würde alles tun, um sie aufzuhalten, er würde vielleicht sogar versuchen, Godiva mit dem Honda anzufahren.

Aber er konnte Godiva mit dem Auto selbstverständlich nicht über Land folgen. Chrissie setzte zögernd das Knie und die rechte Hand in der Mähne dazu ein, das Pferd vom Weg und der Landstraße abzuwenden, wo sie am wahrscheinlichsten Hilfe gefunden hätten. Godiva reagierte ohne zu zögern, und dann ritten sie auf den Wald zu, der fünfhundert Meter südlich am anderen Ende der Wiese lag.

Chrissie konnte den Wald lediglich als schwarze, struppige Masse ausmachen, die sich vor dem nur unwesentlich helleren Himmel abhob. Die Einzelheiten des Geländes, über das sie ritt, waren ihr besser in Erinnerung als sie sie sehen konnte. Sie betete, daß das nächtliche Sehvermögen des Tieres besser als ihres sein möge.

»Du bist mein altes Mädchen, lauf, lauf, gutes altes Mädchen, lauf!« rief sie dem Pferd ermutigend zu.

Sie erzeugten ihren eigenen Wind in der frischen, stillen Luft. Chrissie bemerkte Godivas heißen Atem, der als kondensierter Dampf an ihr vorbeiwehte, und ihren eigenen, der aus ihrem Mund drang. Ihr Herz schlug im Einklang mit dem Pochen der Hufe, und ihr war fast, als wären sie und Godiva nicht Reiter und Pferd, sondern ein Wesen mit ein und demselben Blut und Herz und Atem.

Sie floh zwar um ihr Leben, war aber dennoch ebenso aufgeregt wie ängstlich, und diese Erkenntnis verblüffte sie. Sich dem Tod gegenüberzusehen - oder in diesem Fall möglicherweise etwas Schlimmerem als dem Tod -, war besonders aufregend und auf eine dunkle Weise und in einem Ausmaß faszinierend, das sie sich nie hätte vorstellen können. Sie fürchtete sich vor diesem unerwarteten Kitzel fast ebensosehr wie vor den Leuten, die sie verfolgten.

Sie klammerte sich fest an den Apfelschimmel, prallte manchmal vom Rücken des Pferdes ab und hüpfte gefährlich in die Höhe, hielt sich aber dennoch fest, indem sie die Muskeln im Einklang mit denen des Pferds spannte und entspannte. Chrissie war nach jedem ausgreifenden Schritt überzeugter, daß sie es schaffen würden. Das Pferd hatte Charakter und Ausdauer. Als sie zwei Drittel der Wiese überquert hatten und der Wald vor ihnen aufragte, beschloß Chrissie, daß sie sich wieder nach Osten wenden würde, wenn sie die Bäume erreicht hätten, nicht direkt zur Landstraße, sondern ungefähr in die Richtung, und dann-Da stürzte Godiva.

Ein Fuß geriet in eine Vertiefung - den Bau eines Erdhörnchens, den Eingang zu einer Kaninchenhöhle, möglicherweise ein natürlicher Abwassergraben -, sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Sie versuchte vergebens, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, wieherte entsetzt und stürzte.

Chrissie hatte Angst, daß das Pferd auf sie fallen und sie zerquetschen oder ihr ein Bein brechen würde. Aber sie hatte keine Steigbügel, in denen sich die Füße verfangen konnten, und keinen Sattelknauf, an dem Kleidungsstücke hängenbleiben konnten, und da sie die Mähne des Pferdes instinktiv losließ, wurde sie sofort über den Kopf des Pferdes hinweg hoch in die Luft geschleudert. Der Boden war zwar weich und durch das hohe Gras zusätzlich gepolstert, dennoch prallte sie so stark auf, daß ihr die Luft aus den Lungen getrieben wurde und die Zähne so heftig aufeinanderschlugen, daß sie sich selbst die Zunge abgebissen hätte, wäre sie zwischen ihnen gewesen. Aber sie war drei Meter von dem Pferd entfernt und wenigstens in dieser Hinsicht in Sicherheit.

Godiva erhob sich als erste schon einen Augenblick nach dem Sturz. Sie tänzelte mit ängstlich aufgerissenen Augen an Chrissie vorbei und hielt dabei das rechte Vorderbein hoch, das offenbar nur verstaucht war; wäre es gebrochen gewesen, hätte das Pferd nicht mehr aufstehen können.

Chrissie rief das Pferd, weil sie Angst hatte, es würde weglaufen. Aber sie atmete keuchend, und so kam ihr der Name nur flüsternd über die Lippen: »Godiva!«

Das Pferd lief weiter nach Westen, zum Meer und den Ställen. Als Chrissie sich auf Hände und Knie aufgerichtet hatte, war ihr klargeworden, daß ihr ein lahmendes Pferd nicht von Nutzen war, daher unternahm sie keinen Versuch mehr, das Tier zurückzurufen. Sie rang keuchend nach Atem, und ihr war ein wenig schwindlig, aber sie wußte, sie mußte weiter, weil sie zweifellos immer noch verfolgt wurde. Sie konnte die Scheinwerfer des Hondas sehen, der mehr als dreihundert Meter entfernt am Wegesrand geparkt war. Der letzte Rest Sonnenschein war verschwunden, die Wiese schwarz. Sie konnte nicht erkennen, ob geduckte, huschende Gestalten da draußen waren, doch sie wußte, sie mußten näherkommen, und ae würde ihnen binnen einer oder zwei Minuten in die Hände fallen.

Sie rappelte sich auf, wandte sich nach Süden zum Wald, stolperte zehn oder fünfzehn Meter, bis sich ihre Beine vom Schock des Sturzes erholt hatten, dann fing sie schließlich wieder an zu laufen.

6

Sam Booker hatte im Verlauf vieler Jahre herausgefunden, daß die gesamte Länge der Küste Kaliforniens von bezaubernden Gaststätten mit Mauerwerk feinster Qualität, wettergezeichnetem Holz, gewölbten Dächern, facettiertem Glas und üppig angelegten Gärten mit Natursteinwegen geschmückt wurde. Trotz der anheimelnden Bilder, die sein Name heraufbeschwörte, und der einzigartigen malerischen Umgebung, in der es sich befand, gehörte das Cove Lodge nicht zu diesen Juwelen Kaliforniens. Es war nur dn stuckverzierter, zweistöckiger rechteckiger Klotz mit vierzig Zimmern, einer öden Cafeteria an einem Ende und ohne Swimmingpool. Die Annehmlichkeiten beschränkten sich auf je einen Eis - und Getränkeautomaten pro Stockwerk. Das Schild über dem Büro des Motels war weder auffallend noch im modernen Neonstil gehalten, nur klein und schlicht -und billig.

Der Nachtportier gab ihm ein Zimmer im zweiten Stock mit Blick aufs Meer, obwohl Sam keinen Wert auf die Aussicht legte. Wenn man den wenigen Autos auf dem Parkplatz trauen konnte, waren Zimmer mit dieser Aussicht aber offenbar nicht knapp. Jeder Stock des Hotels beherbergte zwanzig Zimmer in zwei Zehnerfluchten, zu denen man über einen Flur im Inneren gelangen konnte, dessen grellorangefarbener Teppichboden den Augen weh tat. Die Zimmer zum Osten überblickten die Cypress Lane; die im Westen den Pazifik. Sein Quartier befand sich in der nordwestlichen Ecke: ein übergroßes Bett mit durchgelegener Matratze und verschlissener, blaugrüner Steppdecke, ein Nachttisch mit Brandspuren von Zigaretten, ein auf einem Tischchen festgeschraubter Fernseher, ein Tisch, zwei Lehnstühle, eine Kommode mit Zigarettenspuren, Telefon, Bad und ein großes Fenster zum nachtverhüllten Meer.

Wenn niedergeschlagene Handlungsreisende, die das Glück verlassen hatte und die sich am Rande des wirtschaftlichen Ruins befanden, Selbstmord begingen, dann taten sie es in Zimmern wie diesem.

Er packte seine beiden Koffer aus und verstaute die Kleidungsstücke im Schrank und in den Schubladen der Kommode. Dann setzte er sich auf den Bettrand und sah das Telefon auf dem Nachttisch an.

Er sollte seinen Sohn Scott anrufen, der zu Hause in Los Angeles war, aber das konnte er von diesem Telefon aus nicht machen. Wenn sich später die hiesige Polizei für ihn zu interessieren anfinge, würde sie das Cove Lodge besuchen, seine Ferngespräche feststellen, die Nummern herausfinden, die er angerufen hatte, und versuchen, seine wahre Identität über die der anderen zu ermitteln, mit denen er gesprochen hatte. Damit sein Inkognito gewahrt bliebe, durfte er von diesem Telefon ausschließlich seine Kontaktnummer im Revier das Bureau in L. A. anrufen, eine sichere Leitung, unter der man sich lediglich mit »Birchfield Versicherungen, kann ich Ihnen helfen?« melden würde. Als weitere Sicherheit war Birchfield, die nichtexistierende Firma, bei der Sam angeblich Makler war, tatsächlich in den Unterlagen der Telefongesellschaft eingetragen; man konnte sie nicht ohne weiteres zum FBI zurückverfolgen. Er hatte noch nichts zu melden, daher nahm er den Hörer nicht ab. Er konnte Scott von einem öffentlichen Fernsprecher anrufen, wenn er zum Essen ginge.