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»Oh, ich würde sie erkennen, keine Bange.«

»Nein, das würden Sie nicht. Sie wären zu sehr damit beschäftigt, darüber zu brüten, wie unfair, ungerecht, hart, grausam, öde, gräßlich und dumm das Leben ist, daß Sie die Gelegenheit nicht ergreifen würden. Sie würden die Gelegenheit nicht einmal bemerken. Sie wären so sehr in Ihrem Dunstkreis der Niedergeschlagenheit gefangen, daß Sie nicht sehen würden, wer sie ist. Aber welches ist Ihr vierter Grund weiterzuleben?«

Er zögerte: »Angst vor dem Sterben.«

Sie blinzelte ihn an. »Das verstehe ich nicht. Wenn das Leben so schrecklich ist, warum sollte man dann Angst vor dem Tod haben?« »Ich bin einmal beinahe gestorben. Ich war auf dem Operationstisch und bekam eine Kugel aus der Brust operiert, und ich wäre fast über den Jordan gegangen. Ich schwebte aus meinem Körper heraus und sah den Ärzten eine Weile zu, und dann raste ich immer schneller einen dunklen Tunnel entlang auf grelles Licht zu - das ganze verdammte. Szenario.«

Sie war beeindruckt und fasziniert. Ihre klaren blauen Augen waren groß und interessiert. »Und?«

»Ich habe gesehen, was auf der anderen Seite liegt.«

»Es ist Ihnen ernst, nicht?«

»Verdammt ernst.«

»Sie wollen mir erzählen, Sie wissen, daß es ein Leben nach dem Tod gibt?«

»Ja.«

»Einen Gott?«

»Ja.«

Sie sagte verblüfft: »Aber wenn Sie wissen, daß es einen Gott gibt und wir von dieser Welt in eine andere ziehen, dann muß Ihnen doch klar sein, daß das Leben eine Bedeutung, einen Sinn, hat.«

»Und?«

»Nun, Zweifel am Sinn des Lebens sind bei den meisten Menschen die Ursache für Depressionen und Niedergeschlagenheit. Die meisten von uns... wenn wir erlebt hätten, was Sie erlebt haben, würden wir uns nie wieder Gedanken oder Sorgen machen. Wir hätten Kraft, mit jedem Widersacher fertig zu werden, weil wir wüßten, daß es einen Sinn hat und es ein Leben im Jenseits gibt. Also, was ist mit Ihnen los, Mister? Warum wurden Sie danach nicht erleuchtet? Sind Sie einfach ein dickköpfiger Trottel oder was?«

»Trottel?«

»Beantworten Sie meine Frage.«

Der Fahrstuhl klackte und fuhr vom ersten Stock hinauf.

»Harry kommt«, sagte Sam.

»Beantworten Sie meine Frage.«

»Sagen wir einfach, was ich gesehen habe, hat mir keine Hoffnung gemacht. Es hat mich durch und durch verängstigt.« »Nun? Lassen Sie mich nicht hängen? Was haben Sie auf der anderen Seite gesehen?«

»Wenn ich Ihnen das sage, werden Sie mich für verrückt halten.«

»Sie haben nichts zu verlieren. Ich glaube schon, daß Sie verrückt sind.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf und wünschte sich, er hätte es nie zur Sprache gebracht. Wie hatte sie ihn dazu gebracht, so rückhaltlos offen zu sein?

Der Fahrstuhl war im dritten Stock und hielt an.

Tessa stieß sich von der Arbeitsplatte ab, kam auf ihn zu und sagte: »Verraten Sie mir, was Sie gesehen haben, gottverdammt.«

»Sie werden es nicht verstehen.«

»Was bin ich - eine Schwachsinnige?«

»Oh, Sie werden verstehen, was ich gesehen habe, aber nicht, was es für mich bedeutet.«

»Verstehen Sie denn, was es für Sie bedeutet?«

»O ja«, sagte er ernst.

»Werden Sie es mir freiwillig sagen, oder muß ich eine Vorlegegabel aus dem Regal holen und es aus Ihnen herausfoltern?«

Der Fahrstuhl fuhr vom dritten Stock herunter.

Er sah zum Flur. »Ich möchte wirklich nicht darüber sprechen.«

»Nicht, hm?«

»Nein.«

»Sie haben Gott gesehen, wollen aber nicht darüber sprechen.«

»Ganz recht.«

»Bei den meisten ist es so - wenn sie Gott gesehen haben, wollen sie über nichts anderes mehr sprechen. Wenn jemand Gott gesehen hat, gründet er eine Religion auf diesem Erlebnis und erzählt Millionen davon.«

»Aber ich...«

»Tatsache ist, soweit ich weiß, verändert es die Menschen für alle Zeiten, wenn sie dem Tod so nahe kommen. Und immer zum Besseren. Wenn sie pessimistisch waren, werden sie Optimisten. Wenn sie Atheisten waren werden sie Gläubige. Ihre Wertvorstellungen verändern sich, sie lernen, das Leben zu lieben, sie strahlen gottverdammt! Aber Sie nicht. O nein, Sie werden noch mürrischer, noch grimmiger, noch verdrossener.«

Der Fahrstuhl kam im Erdgeschoß zum Stillstand und verstummte.

»Harry kommt«, sagte Sam.

»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«

»Vielleicht kann ich es Ihnen erzählen«, sagte er und war überrascht, daß er tatsächlich mit ihr darüber sprechen wollte, wenn Zeit und Ort richtig waren. »Vielleicht Ihnen. Aber später.«

Moose kam in die Küche, er hechelte und grinste sie an, und Harry folgte einen Augenblick später.

»Guten Morgen«, sagte Harry fröhlich.

»Haben Sie gut geschlafen?« fragte Tessa ihn und schenkte ihm ein aufrichtig liebevolles Lächeln, um das Sam ihn beneidete.

Harry sagte: »Tief und fest - aber nicht wie ein Toter, Gott sei Dank.«

»Pfannkuchen?« fragte Tessa ihn.

»Stapelweise, bitte.«

»Eier?«

»Dutzende?«

»Toast?«

»Laibe.«

»Ich mag Männer mit Appetit.«

Harry sagte: »Ich bin die ganze Nacht gelaufen, darum habe ich Hunger.«

»Gelaufen?«

»Im Traum. Ich wurde von Schreckgespenstern verfolgt.«

Während Harry eine Packung Hundefutter unter einem Schränkchen hervorholte und Mooses Schüssel in der Ecke füllte, ging Tessa zur Pfanne, fettete sie wieder ein, sagte Sam, daß er für die Eier verantwortlich sei, und verteilte den ersten Pfannkuchenteig aus der Schüssel in der Pfanne. Nach einem Augenblick sagte sie: »Patti La Belle, >Stir It Up<«, und fing wieder an zu singen und auf der Stelle zu tanzen.

»He, ich kann Ihnen Musik geben, wenn Sie Musik wollen.«

Er rollte zu einem unter dem Tresen angebrachten Radio, das weder Tessa noch Sam bemerkt hatten, schaltete es ein und drehte den Sendersuchlauf bis er einen gefunden hatte, der »I Heard It Through the Grapevine« von Gladys Knight und den Pips spielte.

»Hervorragend«, sagte Tessa und hüpfte, wiegte und wippte so enthusiastisch, daß sich Sam nicht erklären konnte, wie sie den Pfannkuchenteig so ordentlich in die Pfanne kippen konnte.

Harry lachte und drehte den motorisierten Rollstuhl im Kreis, als würde er mit ihr tanzen.

Sam sagte: »Ist Ihnen denn nicht klar, daß die Welt um uns herum zusammenbricht?«

Sie achteten gar nicht auf ihn, und er vermutete, daß er es nicht anders verdiente.

13

Chrissie erreichte auf Umwegen, indem sie sich in Regen und Nebel und allen Schatten hielt, die sie finden konnte, den Weg östlich der Conquistador. Sie betrat den Garten von Talbots Haus durch eine Tür im Rotholzzaun und sprang von einem Busch zum nächsten, wobei sie zweimal beinahe in Hundehäufchen trat - Moose war ein erstaunlicher Hund, aber nicht ohne Fehler -, bis sie die Stufen der Veranda erreicht hatte.

Sie hörte drinnen Musik spielen. Es war ein Oldie aus der Zeit, als ihre Eltern Teenager gewesen waren. Es war sogar eines ihrer Lieblingsstücke gewesen. Chrissie konnte sich zwar nicht mehr an den Titel erinnern, aber den Namen der Gruppe kannte sie noch - Junior Walker and the All-Stars.

Sie dachte sich, daß die Musik und der Regen ihre Anna-herung übertönen würden, und schlich die Stufen zur Rotholzveranda hinauf und gebückt bis zum nächsten Fenster. Sie kauerte eine Weile unter dem Sims und belauschte die drinnen. Sie unterhielten sich, lachten oft und sangen manchmal die Songs im Radio mit.