Выбрать главу

Er wollte nicht mit dem Jungen reden. Es würde ein reiner Pflichtanruf werden. Sam graute davor. Die Unterhaltungen mit seinem Sohn waren vor mindestens drei Jahren unerfreulich geworden, als der Junge dreizehn und schon ein Jahr ohne Mutter gewesen war. Sam fragte sich, ob es mit dem Jungen so schnell oder überhaupt so weit gekommen wäre, wenn Karen noch leben würde. Dieser Gedankengang führte natürlich unweigerlich zu seiner eigenen Rolle am Niedergang von Scott: Wäre der Junge trotz der elterlichen Zuwendung, die er erhielt, schlecht geworden; war sein Niedergang unweigerlich, weil die Schwäche in ihm war oder in seinen Sternen stand? Oder war Scotts Versagen die direkte Folge des Unvermögens seines Vaters, ihn auf einen besseren, lichteren Weg zu führen?

Wenn er weiter darüber nachdachte, würde er direkt hier in Moonlight Cove zu einem Willy Lomann werden, obwohl er kein Handlungsreisender war.

Guinness Stout.

Gutes mexikanisches Essen.

Goldie Hawn.

Angst vor dem Sterben.

Seine Liste der Gründe zum Weiterleben war verdammt kurz und zu jämmerlich, ernsthaft darüber nachzudenken, aber vielleicht gerade lang genug.

Er ging auf die Toilette und wusch sich anschließend Hände und Gesicht mit kaltem Wasser. Er fühlte sich immer noch müde und nicht im geringsten erfrischt.

Er zog die Cordjacke aus und streifte ein dünnes, festes Schulterhalfter aus Leder über, das er aus dem Koffer nahm. Er hatte auch eine Chiefs Special, Kaliber 38, von Smith & Wessen eingepackt, die er jetzt lud. Er steckte sie ins Halfter, dann schlüpfte er wieder ins Jackett. Seine Kleidung war so geschneidert, daß sie die Waffe verbarg; sie erzeugte keine Wölbung und das Halfter saß auch so weit hinten, daß man es nicht einmal dann erkennen konnte, wenn er das Jackett aufgeknöpft hatte.

Sams Körper und Gesicht waren für geheime Ermittlungen ebenso maßgeschneidert wie seine Kleidung. Er war einsachtundsiebzig, weder groß noch klein. Er wog achtzig Kilo, hauptsächlich Knochen und Muskeln, wenig Fett, trotzdem war er kein stiernackiger Gewichthebertyp in Bestform, so daß er dadurch Aufmerksamkeit erregen könnte. Sein Gesicht wies nichts Besonderes auf: Es war weder häßlich noch schön, weder zu breit noch zu schmal, weder mit ungewöhnlich scharf geschnittenen noch mit besonders flachen Zügen, ohne Makel oder Narben. Das sandfarbene Haar hatte er in zeitloser mittlerer Länge geschnitten und in einem Stil, der im Zeitalter des Bürstenschnitts ebensowenig aufgefallen wäre wie in dem schulterlanger Locken.

Von sämtlichen Aspekten seiner Erscheinung waren einzig und allein die Augen bemerkenswert. Sie waren graublau mit dunkelblauen Linien. Frauen hatten ihm oft gesagt, er hätte die schönsten Augen, die sie je gesehen hätten. Früher war ihm einmal etwas daran gelegen gewesen, was Frauen zu ihm gesagt hatten.

Er zuckte die Achseln und vergewisserte sich, ob das Halfter richtig saß.

Er rechnete nicht damit, daß er die Waffe heute abend brauchen würde. Er hatte noch nicht angefangen herumzu-schnüffeln und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; und da er bisher noch niemandem auf die Füße getreten war, würde auch niemand zurückschlagen.

Dennoch wollte er den Revolver von jetzt an tragen. Er konnte ihn nicht im Motelzimmer oder im Mietwagen lassen; wenn jemand eine Durchsuchung vornähme und die Waffe fände, würde seine Tarnung auffliegen. Kein Börsenmakler in mittleren Jahren, der nach einem Küstenstädtchen suchte, wo er sich vom Streß zurückziehen konnte, würde einen schallgedämpften 38er dieser Marke und dieses Modells bei sich haben. Es war die Waffe eines Bullen.

Er steckte den Zimmerschlüssel ein und ging zum Essen.

7

Nachdem sie sich eingetragen hatte, stand Tessa Lockland lange Zeit am Fenster ihres Zimmers im Cove Lodge, ohne das Licht einzuschalten. Sie sah auf den weiten, dunklen Pazifik hinaus und den Strand entlang, an dem ihre Schwester Janice angeblich eine gräßliche Mission der Selbstvernichtung begonnen hatte.

Die offizielle Geschichte war, daß Janice eines Nachts in einem Zustand akuter Depression alleine zum Strand gegangen war. Sie hatte eine Uberdosis Valium genommen und die Tabletten mit mehreren Schlucken aus einer Dose Diet Coke hinuntergespült. Dann hatte sie die Kleidung ausgezogen und war in Richtung Japan losgeschwommen. Sie hatte aufgrund des Schlafmittels bald das Bewußtsein verloren und war in die kalte Umarmung des Meeres hinabgesunken und ertrunken.

» Scheiße«, sagte Tessa leise, als spräche sie zu ihrem eigenen, vagen Spiegelbild in dem kühlen Glas.

Janice Lockland Capshaw war eine Person voller Hoffnung und unversiegbarem Optimismus gewesen - eine Eigenschaft, die bei Angehörigen des Lockland-Clans so verbreitet war, daß sie genetisch bedingt sein mußte. Janice hatte in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges Mal in der Ecke gesessen und hatte sich selbst bemitleidet; hätte sie es versucht, dann hätte sie innerhalb von Sekunden über die Dummheit von Selbstmitleid gelacht und wäre aufgestanden, um ins Kino oder zu einem psychotherapeutischen Dauerlauf zu gehen. Nicht einmal nach Richards Tod hatte Janice ihren Kummer zu Depressionen wuchern lassen, obwohl sie ihn sehr geliebt hatte.

Was also konnte den unvermittelten emotionalen Absturz verursacht haben? Wenn sie an die Geschichte dachte, die die Polizei ihr weismachen wollte, wurde Tessa zu Sarkasmus getrieben. Vielleicht war Janice in ein Restaurant gegangen und hatte ein schlechtes Essen vorgesetzt bekommen, und dieses Erlebnis hatte sie so sehr niedergeschmettert, daß Selbstmord der einzig mögliche Ausweg war. Klar. Oder vielleicht war ihr Fernseher kaputtgegangen und sie hatte deshalb ihre Lieblingssendung verpaßt, was sie in unerträgliche Verzweiflung gestürzt hatte. Gewiß. Diese Szenarien waren schätzungsweise so plausibel wie der Unsinn, den ihr der Gerichtsmediziner und die Polizei von Moonlight Cove in ihren Berichten präsentiert hatten.

Selbstmord.

»Scheiße«, wiederholte Tessa.

Sie konnte vom Fenster ihres Motelzimmers nur einen kleinen Strandabschnitt sehen, wo gischtende Wellen brandeten. Der Sand wurde vage vom winterlichen Licht des gerade aufgegangenen Viertelmondes erhellt, ein blasses Band, das sich südwestlich und nordwestlich um die Bucht zog.

Tessa verspürte den Wunsch, an dem Strand zu stehen, wo ihre Schwester angeblich den mitternächtlichen Schwimmausflug zum Friedhof angefangen hatte, derselbe Strand, an den die Flut Tage später ihren aufgedunsenen, verstümmelten Leichnam geschwemmt hatte. Sie wandte sich vom Fenster ab und schaltete die Nachttischlampe ein. Sie nahm eine braune Lederjacke vom Kleiderbügel im Schrank, zog sie an, hängte die Handtasche über die Schulter, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Sie war - auf irrationale Weise - sicher, daß sie durch er-staunliche Einsicht oder einen Funken der Intuition Hinweise auf den wahren Sachverhalt finden würde, indem sie nur an den Strand ginge und an der Stelle stünde, wo Janice angeblich gestanden hatte.

8

Als der wie gehämmertes Silber aussehende Mond über den dunklen Hügeln im Osten emporstieg, rannte Chrissie am Waldrand entlang und suchte nach einem Weg zwischen den Bäumen, bevor ihre seltsamen Verfolger sie fänden. Sie kam rasch zum Pyramidenfelsen, der so hieß, weil die Formation, die doppelt so groß war wie sie selbst, drei Seiten hatte und in einer verwitterten Spitze auslief; als sie jünger war, hatte sie sich immer vorgestellt, daß er von einem geographisch verirrten Stamm zentimetergroßer Ägypter erbaut worden war. Da sie seit Jahren auf dieser Wiese und im Wald spielte, war ihr das Gelände so vertraut wie die Zimmer in ihrem Haus, und sie kam hier sicher besser zurecht als ihre Eltern oder Tucker, was ihr einen Vo rteil verschaffte. Sie lief am Pyramidenfelsen vorbei und ins Dunkel unter den Bäumen, wo ein schmaler Wildpfad nach Süden führte.