Tessa wollte ihr nicht sagen, daß ihre Gegner nicht von den Sternen stammten, denn ihr machte das unermüdliche Plappern des Mädchens Spaß. Dann merkte sie, daß Chris-sies linke Hand verletzt war. Die Handfläche war böse aufgeschürft, in der Mitte war das rohe Fleisch zu sehen.«
»Das ist passiert, als ich vom Dach der Pfarrei gestürzt bin«, sagte das Mädchen.
»Du bist vom Dach gefallen?«
»Ja. Mann, das war aufregend. Sehen Sie, das Wolf-Ding kam durchs Fenster und hat mich verfolgt, und ich hatte keine andere Wahl. Bei dem Sturz habe ich mir auch den Knöchel verstaucht, und dann mußte ich durch den Garten zur Hintertür laufen, ehe sie mich erwischen konnten. Wissen Sie, Miß Lockland... «
»Bitte nenn mich Tessa.«
Chrissie war offenbar nicht daran gewöhnt, Erwachsene mit ihren Vornamen anzusprechen. Sie runzelte die Stirn und war einen Augenblick stumm, während sie über die Aufforderung, leger zu sein, nachdachte. Schließlich kam sie zum Ergebnis, daß es unhöflich wäre, nicht den Vornamen zu gebrauchen, wenn sie darum gebeten wurde.
»Okay... Tessa. Nun, wie auch immer, ich kann nicht sagen, was die Außerirdischen als wahrscheinlichstes tun werden, wenn sie uns erwischen. Vielleicht unsere Nieren essen? Oder uns ganz verspeisen? Vielleicht schieben sie uns auch einfach nur außerirdische Mistkäfer in die Ohren, und die Käfer kriechen in unser Gehirn und übernehmen uns. Wie dem auch sei, ich finde, es lohnt sich, von einem Dach zu stürzen, um ihnen zu entkommen.«
Als sie die Toga zusammengesteckt hatte, führte Tessa Chrissie über den Flur ins Bad und suchte im Medizin -schränkchen nach etwas, womit sie die Schürfwunde behandeln konnte. Sie fand eine Flasche Jod mit verblaßtem Etikett, eine halb leere Rolle Pflaster und eine Packung Mullstücke, die so alt waren, daß die einzelnen Papierhüllen schon vergilbt waren. Der Mull selbst sah frisch und weiß aus, das Jod war auch von der Zeit nicht verdorben worden und noch kräftig genug.
Chrissie saß barfuß, in ihrer Toga und mit zerzaustem, trocknendem Haar auf dem heruntergeklappten Deckel der Toilette und ließ die Behandlung ihrer Verletzung stoisch über sich ergehen. Sie protestierte nicht und schrie nicht vor Schmerzen auf - verzog nicht einmal eine Miene.
Aber sie redete. »Das war das zweite Mal, daß ich von einem Dach gestürzt bin, daher nehme ich an, ich habe einen Schutzengel, der über mich wacht. Vor etwa eineinhalb Jahren, im Frühling, bauten diese Vögel - ich glaube, sie werden Stare genannt - ein Nest auf dem Dach eines unserer Ställe daheim, und ich mußte einfach sehen, wie die Babyvögel in dem Nest aussahen, daher nahm ich eine Leiter, als meine Eltern nicht in der Nähe waren, und wartete darauf, bis die Vogelmama davonflog, um Essen zu holen, und dann kletterte ich ganz schnell hinauf, um sie mir anzusehen. Ich kann Ihnen sagen, bevor sie ihre Federn bekommen, sind Babyvögel so ziemlich das Häßlichste, das man sich vorstellen kann - ausgenommen natürlich Außerirdische. Sie waren runzlige, faltige kleine Dinger, nur Schnäbel und Augen und kleine Stummelflügel, wie mißgebildete Arme. Wenn menschliche Babys nach der Geburt so schlimm aussehen würden, hätten die ersten Menschen vor ein paar Millionen Jahren ihre Neugeborenen das Klo runtergespült -wenn sie ein Klo gehabt hätten -, und hätten nicht gewagt, weitere zu bekommen, und damit wäre die ganze menschliche Rasse ausgestorben, bevor sie richtig angefangen hätte.«
Tessa betupfte die Verletzung immer noch mit Jod und bemühte sich erfolglos, nicht zu grinsen, und sie sah auf und stellte fest, daß Chrissie die Augen fest zudrückte, die Nase rümpfte und sich größte Mühe gab, tapfer zu sein.
»Dann kamen Mama- und Papavogel zurück«, sagte Chrissie, »sahen mich an dem Nest und flogen mir kreischend ins Gesicht. Ich bin so erschrocken, daß ich ausrutschte und vom Dach fiel. Damals habe ich mir überhaupt nicht weh getan - aber ich bin in Pferdemist gelandet. Das ist überhaupt nicht witzig, ich kann Ihnen sagen. Ich liebe Pferde, aber sie wären noch liebenswerter, wenn man ihnen beibringen könnte, eine Kiste zu benützen, so wie Katzen.»
Tessa war vernarrt in das Kind.
20
Sam stützte die Ellbogen auf den Küchentisch, beugte sich vor und hörte Chrissie Fester aufmerksam zu. Tessa hatte die Schreckgespenster zwar im Cove Lodge beim Töten gehört und einen unter der Tür ihres Zimmers hindurch gesehen, und Harry hatte sie bei Nacht und Nebel aus der Ferne beobachtet, und Sam hatte gestern nacht zwei vor dem Fenster von Harrys Wohnzimmer gesehen, aber das Mädchen war die einzige unter ihnen, die sie mehrmals aus nächster Nähe gesehen hatte.
Doch Sam schenkte ihr nicht nur wegen ihres einmaligen Erlebnisses seine Aufmerksamkeit. Er war fasziniert von ihrer unbeschwerten Art, ihrem Humor und ihrer Redegewandtheit. Sie besaß offensichtlich bemerkenswerte innere Kraftreserven und echte Zähigkeit, sonst hätte sie die vergangene Nacht und die Ereignisse dieses Vormittags nicht überlebt. Und doch blieb sie bezaubernd unschuldig, zäh, aber nicht hart. Sie gehörte zu den Kindern, die einem Hoffnung für die ganze verdammte Menschheit geben.
Ein Kind wie Scott eins gewesen war.
Daher war Sam so fasziniert von Chrissie Foster. Er sah das Kind in ihr, das Scott gewesen war. Bevor er... sich verändert hatte. Er betrachtete das Mädchen mit einem Bedauern, das so stark war, daß es sich als dumpfe Schmerzen in der Brust und einen Kloß im Hals manifestierte, und hörte ihr zu, aber nicht nur, um die Informationen zu bekommen, die sie preiszugeben hatte, sondern mit der unrealistischen Erwartung, daß er begreifen könnte, weshalb sein Sohn Unschuld und Hoffnung verloren hatte, wenn er sie studierte.
21
Tucker und seine Meute schliefen in der Dunkelheit im Keller der Ikarus-Kolonie nicht, denn das brauchten sie nicht. Sie lagen zusammengerollt in der undurchdringlichen Schwärze. Von Zeit zu Zeit paarten er und das andere Männchen sich mit dem Weibchen, sie zerrten mit wilder Wut aneinander, rissen Reisch auf, das sofort wieder zu heilen anfing und ließen Blut fließen, weil es ihnen eben Lust bereitete - unmoralische Freaks beim Spielen.
Dunkelheit und die kahle Enge ihres Betonbaus trugen zu Tuckers wachsender Desorientierung bei. Er erinnerte sich stündlich weniger an seine Existenz vor der gestrigen aufregenden Jagd. Er hatte kein Selbstwertgefühl mehr. Individualität durfte während der Jagd nicht bei der Meute ermu -tigt werden, und hier im Bau war sie eine noch weniger erstrebenswerte Eigenschaft; in diesem fensterlosen, klau-strophobisch engen Raum war es erforderlich, das Selbst der Gruppe unterzuordnen.
Seine Tagträume waren erfüllt von Bildern dunkler, wilder Schatten, die durch nächtliche Wälder und über Wiesen im Mondschein schlichen. Wenn ihm gelegentlich eine Erin-nerung an menschliche Gestalten durch den Kopf schoß, war ihm ihr Ursprung ein Geheimnis; mehr noch, er hatte Angst davor und konzentrierte seine Fantasie alsbald wieder auf Laufen-Jagen-Paaren-Szenen, in denen er nur Teil der Meute war, ein Aspekt eines einzigen Schattens, ein Glied eines größeren Organismus und von der Notwendigkeit zu denken befreit, nur vom Verlangen erfüllt, zu sein.