Immer noch floß Blut von den Verletzungen an der Stirn, etwas geriet ihm ins rechte Auge. Es brannte. Er wischte das Auge mit dem Armel ab und blinzelte, so gut er konnte, die Tränen fort.
Sein Handgelenk tat höllisch weh. Aber wenn es notwendig war, könnte er den Revolver auch links halten und auf kurze Entfernung hinreichend genau treffen.
Als der 38er geladen war, schlich Sam wieder in das Zimmer, zum rauchenden Computer an der Westwand, wo Har-ley Coltranes mutierter Leichnam auf dem Stuhl hing und die Skelettarme herunterbaumeln ließ. Er ließ die tote Menschmaschine nicht aus den Augen, während er das Telefon vom Modem nahm und auflegte. Dann nahm er den Hörer wieder ab und vernahm zu seiner Erleichterung das Freizeichen.
Sein Mund war so trocken, daß er nicht sicher war, ob er deutlich sprechen könnte, wenn sein Anruf durchgestellt würde.
Er wählte die Nummer des FBI-Büros in Los Angeles.
Ein Klicken in der Leitung.
Eine Pause.
Eine Tonbandstimme sagte: »Wir bedauern, daß wir Ihren Anruf momentan nicht durchstellen können.«
Er legte auf und versuchte es noch einmal.
»Wir bedauern, daß wir Ihren Anruf momentan nicht...«
Er knallte den Hörer auf die Gabel.
Man konnte nicht mit allen Telefonen in Moonlight Cove direkt durchwählen. Und bei denen, die funktionierten, konnte man offenbar auch nur bestimmte Nummern wählen. Genehmigte Nummern. Das hiesige Telefonnetz war zu einer ausgedehnten Sprechanlage für die Verwandelten geworden.
Als er sich vom Telefon abwandte, hörte er, wie sich hinter ihm etwas bewegte. Verstohlen und schnell.
Er wirbelte herum, und die Frau war drei Schritte entfernt. Sie war nicht mehr mit dem vernichteten Computer verbunden, aber eines der organisch aussehenden Kabel verlief vom Ansatz ihrer Wirbelsäule bis zu einer Steckdose an der Wand.
Sam, der in seinem Entsetzen frei assoziierte, dachte: Soviel zu Ihrem unbeholfenen Ungeheuer, Dr. Frankenstein, soviel zu Stürmen und Gewittern, heutzutage stecken wir einfach die Monster in die Steckdose und verpassen ihnen ihre Ladung direkt, dank Pacific Power & Light.
Sie gab ein schlangengleiches Zischen von sich und griff nach ihm. Anstelle von Fingern hatte ihre Hand drei Vielzweckstecker wie die Interfaces, mit denen die Elemente von Heimcomputern verbunden waren, aber diese Stecker waren so spitz wie Nägel.
Sam duckte sich zur Seite, stieß mit dem Stuhl zusammen, auf dem Harley Coltrane noch hing, und wäre um ein Haar gestürzt, aber er feuerte aus der Bewegung auf das Ding. Er schoß die Kammern mit fünf 38er Patronen leer.
Die ersten drei Schüsse warfen sie nach hinten und zu Boden. Die anderen beiden gingen fehl und rissen Verputz von den Wänden, weil er in seiner Panik nicht aufhören konnte abzudrücken, als sie aus der Schußlinie fiel.
Sie versuchte aufzustehen.
Wie ein gottverdammter Vampir, dachte er.
Er brauchte das High-Tech-Aquivalent eines Holzpfahls, eines Kreuzes oder einer Silberkugel.
In den Arterien, die ihren nackten Körper überzogen, pulsierte immer noch Licht, aber an manchen Stellen sprühte sie Funken, so wie die Computer, als er seine Schüsse auf sie abgefeuert hatte.
Er hatte keine Patronen mehr im Revolver.
Er suchte in den Taschen nach Munition.
Er hatte keine.
Verschwinde.
Ein elektronisches Heulen, nicht ohrenbetäubend, aber nervenzerfetzender als tausend gefeilte Fingernägel, die gleichzeitig über eine Tafel kratzten, ging von ihr aus.
Zwei in Segmente unterteilte, wurmähnliche Sonden platzten aus ihrem Gesicht und schössen auf ihn zu. Beide fielen wenige Zentimeter vor ihm herunter - vielleicht ein Zeichen nachlassender Energie - und kehrten zu ihr zurück wie Quecksilberspritzer, die wieder von der Hauptmasse aufgesogen wurden.
Aber sie stand auf.
Sam stolperte zur Tür, bückte sich und hob die zwei Kugeln auf, die er beim Laden der Waffe fallengelassen hatte. Er klappte die Trommel auf, schüttelte die leeren Messinghülsen heraus, steckte die beiden letzten Schüsse hinein.
»...brauuuuuuuuuche... brauuuuuuuuuuuche...«
Sie war auf den Beinen und kam auf ihn zu.
Diesesmal hielt er die Smith & Wessen mit beiden Händen, zielte sorgfältig und schoß ihr in den Kopf.
Den Datenspeicher wegpusten, dachte er in einem Anflug von schwarzem Humor. Der einzige Weg, eine entschlossene Maschine aufzuhalten. Nimm den Datenspeicher raus, und sie ist nichts weiter als ein Schrotthaufen.
Sie brach auf dem Boden zusammen. Das rote Licht in ihren nichtmenschlichen Augen erlosch; jetzt waren sie schwarz. Sie lag vollkommen still.
Plötzlich loderten Flammen aus ihrem von der Kugel durchbohrten Kopf, sie schlugen aus der Wunde, den Augen, der Nase und dem offenen Mund.
Er ging rasch zu der Steckdose, mit der sie noch verbunden war, kickte gegen den halborganischen Stecker, der aus ihrem Körper gewachsen war, und brach ihn ab.
Die Flammen loderten immer noch aus ihr.
Er konnte sich keinen Hausbrand leisten. Man würde die Leichen finden und die Gegend, einschließlich Harrys Haus, gründlich durchsuchen. Er sah sich um und suchte nach etwas, das er auf sie werfen konnte, um das Feuer zu erstik-ken, aber das Feuer in ihrem Schädel wurde bereits schwächer. Sekunden später war es ausgebrannt.
Die unterschiedlichsten Gerüche hingen in der Luft, über einige davon wollte er lieber nicht nachdenken.
Ihm war ein wenig schwindlig. Übelkeit überkam ihn. Er würgte, biß die Zähne zusammen und schluckte das Erbrochene wieder hinunter.
Er wollte zwar nichts lieber als hier heraus, dennoch nahm er sich die Zeit, beide Computer aus dem Netz zu ziehen. Sie waren funktionsuntüchtig und unrettbar beschädigt, aber er war von der irrationalen Angst erfüllt, daß sie wie Dr. Frankensteins selbstgebauter Mensch in einer Fortsetzung nach der anderen irgendwie wieder zum Leben er-wachen würden, wenn sie mit Elektrizität in Berührung kämen.
Unter der Tür zögerte er, lehnte sich an den Türrahmen, um seine zitternden Beine etwas zu entlasten, und betrachtete die seltsamen Leichen. Er hatte damit gerechnet, daß sie tot ihre ursprünglichen Gestalten wieder annehmen würden, so wie Werwölfe im Kino, wenn sie eine Silberkugel ins Herz bekommen hatten oder mit einem Stock mit silbernem Knauf geschlagen worden waren, sich immer ein letztes Mal verwandelten und zu ihrem gequälten, allzu menschlichen Wesen wurden, das endlich von dem Fluch befreit war. Unglücklicherweise handelte es sich hier nicht um Lykanthro-pie. Dies war keine übernatürliche Heimsuchung, sondern etwas Schlimmeres, das Menschen ohne Hilfe von Dämonen oder Gespenstern oder anderen Wesen, die in der Nacht spukten, über sich gebracht hatten. Die Coltranes blieben so, wie sie gewesen waren, monströse Halbblüter aus Fleisch und Metall, Blut und Silikon - Mensch und Maschine.
Er konnte nicht verstehen, wie sie zu dem geworden waren, was sie waren, aber er erinnerte sich dunkel daran, daß es ein Wort dafür gab, und das fiel ihm einen Augenblick später auch ein. Cyborg: eine Person, deren physiologische Funktion von einer mechanischen oder elektronischen Einrichtung unterstützt wurde oder davon abhängig war. Menschen, die Schrittmacher trugen, um Herzrhythmusstörungen auszugleichen, waren Cyborgs, und das war gut. Leute mit Nierenversagen - die regelmäßig Dialyse erhielten - waren Cyborgs, und auch das war gut. Aber bei den Coltranes war das Konzept ins Extrem übersteigert worden. Sie präsentierten die Alptraumseiten der fortgeschrittenen Kybernetik, indem nicht nur körperliche, sondern auch geistige Funktionen von Maschinen unterstützt und wahrscheinlich sogar größtenteils von ihnen abhängig geworden waren.