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Malenarin schaute in die Tiefe und sah drei Reiter, die in vollem Galopp vom Turm wegstrebten. Die Botschafter waren unterwegs. Falls Barklan nicht angegriffen worden war, würden sie dort anhalten. Der dortige Hauptmann würde sie weiter nach Süden schicken, nur für alle Fälle. Und sollte Barklan nicht mehr stehen, würden die Jungs weiterreiten, falls nötig bis zur Hauptstadt.

Malenarin wandte sich wieder dem Sturm zu. Die näher kommende Dunkelheit hatte ihn nervös gemacht. Sie kam.

»Bringt die Vorräte hinauf«, befahl er Landalin. »Bringt die Sachen aus dem Lager nach oben und leert die Keller. Die Ladearbeiter sollen alle Pfeile zusammenholen und Sammelpunkte einrichten, wo sie die Bogenschützen mit Nachschub versorgen können. Stellt an jedem Engpass, jeder Schießscharte und jedem Fenster Bogenschützen auf. Zündet die Feuertöpfe an, und haltet Männer bereit, um die Außenrampen abzuwerfen. Bereitet euch auf die Belagerung vor.«

Während Landalin Befehle brüllte, eilten Männer schon los. Malenarin hörte hinter sich Stiefel über Stein schaben, und er warf einen Blick über die Schulter. Kam Jargen zurück?

Nein. Es war ein Junge von beinahe vierzehn Sommern, der noch zu jung für einen Bart war; sein dunkles Haar war zerzaust und sein Gesicht vermutlich vom Emporstürmen der sieben Turmebenen schweißbedeckt.

Keemlin. Malenarin verspürte einen Stich der Furcht, der sofort durch Wut ersetzt wurde. »Soldat! Ihr solltet eine Botschaft überbringen!«

Keemlin biss sich auf die Lippe. »Nun, Herr«, sagte er. »Tian, vier Plätze unter mir. Er ist fünf, vielleicht sogar zehn Pfund leichter als ich. Das macht einen großen Unterschied, Herr. Er reitet viel schneller, und ich dachte, dass es sich um eine wichtige Botschaft handelt. Also bat ich darum, dass er an meiner Stelle reitet.«

Malenarin runzelte die Stirn. Um sie herum eilten Soldaten umher, rannten die Stufen hinunter oder versammelten sich mit ihren Bögen an der Turmbrüstung. Der Wind heulte nun leiser, wenn auch beharrlicher Donner erklang.

Keemlin erwiderte seinen Blick. »Tians Mutter, die Lady Yabeth, hat vier Söhne an die Fäule verloren«, sagte er so leise, dass nur Malenarin ihn hören konnte. »Tian ist ihr als Einziger geblieben. Falls einer von uns eine Chance hat, hier rauszukommen, Herr, dachte ich, dass er es sein sollte.«

Malenarin hielt den Blick seines Sohnes fest. Der Junge begriff, was auf sie zukam. Das Licht stehe ihm bei, aber er begriff. Und er hatte einen anderen an seiner Stelle weggeschickt.

»Kralle«, bellte Malenarin und fasste einen der vorbeigehenden Soldaten ins Auge.

»Ja, mein Lord Kommandant?«

»Lauft runter in mein Arbeitszimmer«, sagte Malenarin. »In meiner Eichentruhe liegt ein Schwert. Holt es mir.« Der Mann salutierte und gehorchte.

»Vater?«, sagte Keemlin. »Mein Namenstag ist erst in drei Tagen.«

Malenarin wartete mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. Im Augenblick lag seine wichtigste Aufgabe darin, allen zu zeigen, dass er das Kommando hatte, um seinen Truppen Vertrauen einzuflößen. Kralle kehrte mit dem Schwert zurück; die abgenutzte Scheide trug das Bild einer brennenden Eiche. Das Symbol von Haus Rai.

»Vater …«, wiederholte Keemlin. »Ich …«

»Diese Waffe wird einem Jungen angeboten, wenn er ein Mann wird«, sagte Malenarin. »Anscheinend kommt das zu spät, Sohn. Denn ich sehe einen Mann vor mir stehen.« Er streckte die Waffe mit der rechten Hand aus. Überall auf dem Turm wandten sich ihm die Soldaten zu: Bogenschützen mit bereitgehaltenen Bogen, die Soldaten, die die Spiegel bedienten, die diensthabenden Wächter. Als Grenzländer hatte jeder Einzelne von ihnen ausnahmslos am vierzehnten Namenstag sein Schwert erhalten. Jeder Einzelne von ihnen hatte den stockenden Atem gespürt, das wunderbare Gefühl, volljährig zu werden. Jeder von ihnen hatte das erlebt, aber das machte diese Gelegenheit nicht weniger zu etwas Besonderem.

Keemlin ließ sich auf ein Knie herunter.

»Warum ziehst du dein Schwert?«, fragte Malenarin laut genug, dass jeder Mann auf dem Turm es hören konnte.

»In Verteidigung meiner Ehre, meiner Familie oder meiner Heimat«, erwiderte Keemlin.

»Wie lange kämpfst du?«

»Bis sich mein letzter Atemzug mit dem Nordwind vereinigt. «

»Wann gibst du die Wache auf?«

»Niemals«, flüsterte Keemlin. »Sprich es lauter!«

»Niemals!«

»Sobald dieses Schwert gezogen wird, wirst du zum Krieger, halte es immer in deiner Nähe, um darauf vorbereitet zu sein, gegen den Schatten zu kämpfen. Wirst du diese Klinge ziehen und dich als Mann zu uns gesellen?«

Keemlin schaute auf, dann nahm er das Schwert mit festem Griff und zog es aus der Scheide.

»Erhebe dich als Mann, mein Sohn!«, verkündete Malenarin.

Keemlin stand auf und hielt die Waffe in die Höhe; die blank polierte Klinge spiegelte das diffuse Sonnenlicht wider. Die Männer auf dem Turm jubelten.

In so einem Augenblick war es keine Schande, Tränen in den Augen zu haben. Malenarin blinzelte sie fort, dann kniete er nieder und schnallte seinem Sohn den Schwertgürtel um. Die Männer jubelten noch immer, und er wusste, dass das nicht allein seinem Sohn galt. Sie jubelten, um dem Schatten zu trotzen. Einen Augenblick lang waren ihre Stimme lauter als der Donner.

Malenarin erhob sich und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter, während der Junge das Schwert in die Scheide schob. Zusammen drehten sie sich um, um sich dem näher kommenden Schatten zu stellen.

»Da!«, sagte einer der Bogenschützen und zeigte nach oben. »Da ist etwas in Wolken!«

»Draghkar!«, sagte ein anderer.

Die unnatürlichen Wolken waren nun näher gekommen, und der von ihnen verbreitete Schatten konnte nicht länger die Horden heranstürmender Trollocs verbergen. Etwas flog vom Himmel herab, aber ein Dutzend Bogenschützen schossen. Die Kreatur kreischte auf und stürzte, flatterte unbeholfen mit dunklen Schwingen.

Jargen drängte sich zu Malenarin heran. »Mein Lord«, sagte er mit einem Seitenblick auf Keemlin, »der Junge sollte unten sein.«

»Er ist kein Junge mehr«, sagte Malenarin stolz. »Er ist ein Mann. Euer Bericht?«

»Alles ist bereit.« Jargen warf einen Blick über die Mauer und betrachtete die sich nähernden Trollocs so gleichmütig, als handele es sich um eine Pferdeherde. »Diesen Baum werden sie nicht so leicht fällen.«

Malenarin nickte. Keemlins Schultern verrieten Angespanntheit. Das Meer aus Trollocs erschien endlos. Gegen diesen Feind würde der Turm irgendwann fallen. Die Trollocs würden immer wieder anstürmen, eine Welle nach der anderen.

Aber jeder Mann auf dem Turm kannte seine Pflicht. Sie würden das Schattengezücht so lange töten, wie sie konnten, und hoffentlich damit genug Zeit erkaufen, dass die Botschaften etwas Gutes taten.

Malenarin war ein Mann der Grenzlande, genau wie sein Vater, genau wie der Sohn an seiner Seite. Sie kannten ihre Aufgabe. Man hielt stand, bis man abgelöst wurde.

Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

1

Zuerst die Äpfel

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich ein Wind um die nebelverhangenen Türme von Imfaral. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.

Kühl und leicht tanzte der Wind über Felder aus frischem, vom Frost erstarrten Berggras. Dieser Frost widerstand dem ersten Licht des Tages, behütet von den allgegenwärtigen Wolken, die wie eine Totenmaske am Himmel hingen. Es war Wochen her, dass sich diese Wolken bewegt hatten, und das vergilbte Gras bezeugte das.

Der Wind wühlte den Morgennebel auf und wehte nach Süden, ließ ein kleines Rudel Torrn frösteln. Sie lagen auf einer flachen, mit Flechten bewachsenen Granitplatte und warteten darauf, sich in einem Morgenlicht sonnen zu können, das nicht kommen würde. Der Wind wogte über die Platte, fuhr einen Hügel voller knorriger Murabäume mit an Tauenden erinnernder Rinde und grünen Büscheln aus dicken, nadelähnlichen Blättern hinunter.