Perrin stand auf. Er erinnerte sich daran, die beiden Aiel getötet zu haben, allerdings hatte er es mit Hammer und Messer getan. Er bedauerte ihren Tod nicht. Manchmal musste ein Mann eben kämpfen, so war das nun einmal. Der Tod war schrecklich, aber manchmal war es eben nötig. Tatsächlich war es wunderbar gewesen, mit den Aiel zu kämpfen. Er hatte sich gefühlt wie ein Wolf auf der Jagd.
Wenn Perrin kämpfte, kam er nahe daran, ein anderer zu werden. Und das war gefährlich.
Er schaute Springer anklagend an, der sich an der Straßenecke herumtrieb. »Warum lässt du mich das träumen?«
Ich mache das?, fragte Springer. Das ist nicht mein Traum, Junger Bulle. Siehst du meine Zähne an deinem Hals, die dich zwingen, das zu denken?
Perrins Axt war blutverschmiert. Er wusste, was nun kam. Er drehte sich um. Hinter ihm kam Aram heran, Mordlust in den Augen. Die eine Gesichtshälfte des ehemaligen Kesselflickers war blutig, und es tropfte von seinem Kinn und verschmutzte seinen rot gestreiften Mantel.
Aram zielte mit dem Schwert nach Perrins Hals. Stahl zischte durch die Luft. Perrin trat zurück. Er weigerte sich, noch einmal gegen den Jungen zu kämpfen.
Seine Schattenversion löste sich aus ihm und ließ den echten Perrin in seiner Schmiedkleidung zurück. Der Schatten teilte Hiebe mit Aram aus. Der Prophet hat es mir erklärt… in Wirklichkeit gehörst du dem Schattengezücht an… ich muss Lady Faile vor dir retten …
Plötzlich verwandelte sich der Schatten-Perrin in einen Wolf. Sein Fell war beinahe so dunkel wie das eines Schattenbruders; er schnellte in die Höhe und riss Aram die Kehle heraus.
»Nein! So hat sich das nicht abgespielt!« Das ist ein Traum, sagte Springer.
»Aber ich tötete ihn nicht«, protestierte Perrin. »Ein Aiel durchbohrte ihn in dem Augenblick mit Pfeilen, bevor …« Bevor Aram ihn getötet hätte.
Horn, Huf oder Zahn. Springer drehte sich um und hielt auf ein Gebäude zu. Seine Wand verschwand und enthüllte Meister Luhhans Schmiede. Spielt es eine Rolle? Die Toten sind tot. Zweibeiner kommen nicht her, nachdem sie gestorben sind, normalerweise nicht. Ich weiß nicht, wo sie hingehen, wenn sie gehen.
Perrin betrachtete Arams Leichnam. »Ich hätte diesem Narren das Schwert in dem Moment abnehmen sollen, indem er es ergriff. Ich hätte ihn zu seiner Familie zurückschicken sollen.«
Verdient ein Welpe nicht seine Reißzähne?, fragte Springer offensichtlich verwirrt. Warum solltest du sie ihm ziehen?
»Das ist eine Sache unter Menschen«, sagte Perrin.
Eine Sache der Zweibeiner, der Menschen. Tür dich ist es immer eine Sache der Menschen. Was ist mit der Sache der Wölfe?
»Ich bin kein Wolf.«
Springer trottete in die Schmiede, und Perrin folgte ihm zögernd. Das Fass brodelte noch immer. Die Wand bildete sich neu, und Perrin trug wieder Lederweste und Schürze, die Zange in der Hand.
Er beugte sich darüber und holte eine weitere Figur heraus. Es war die Gestalt von Tod al’Caar. Als sie abkühlte, entdeckte Perrin, dass das Gesicht nicht so wie bei Aram verzerrt war, auch wenn die untere Hälfte noch immer ein umgeformter Eisenblock war. Die Figur glühte weiterhin leicht rötlich, nachdem Perrin sie auf dem Boden abstellte. Er stieß die Zange zurück ins Wasser und holte eine Figur von Jori Congar hervor, dann eine von Azi al’Thone.
Immer wieder trat Perrin zu dem brodelnden Fass und holte eine Figur nach der anderen heraus. Wie in Träumen üblich nahm es nur eine kurze Sekunde in Anspruch, sie alle zu holen, kam ihm aber wie Stunden vor. Als er fertig war, standen Hunderte von Figuren auf dem Boden und schauten ihn an. Beobachteten ihn. In jeder Stahlfigur brannte ein winziges Feuer, als warteten sie darauf, den Schmiedehammer zu spüren.
Aber derartige Figuren schmiedete man nicht; man goss sie. »Was bedeutet das?« Perrin ließ sich auf einen Hocker nieder.
Bedeuten? Springer öffnete den Rachen zu einem Wolfslachen. Es bedeutet, dass viele kleine Männer auf dem Boden stehen, von denen man keinen essen kann. Deine Art hat viel zu viel für Steine übrig und dem, was sie enthalten.
Die Figuren schienen ihn anzuklagen. Um sie herum lagen Arams Scherben, die größer zu werden schienen. Bewegung kam in die zersplitterten Hände, und sie krallten über den Boden. Sämtliche Scherben verwandelten sich in kleine Hände, die sich auf Perrin zuarbeiteten und nach ihm griffen.
Perrin keuchte auf und sprang auf die Füße. In der Ferne hörte er Gelächter, das immer näher kam und das Gebäude erzittern ließ. Springer sprang auf und krachte gegen ihn. Und dann …
Perrin fuhr in die Höhe. Er war zurück in seinem Zelt, auf dem Feld, wo sie nun schon seit ein paar Tagen lagerten. Eine Woche zuvor waren sie einer Blase des Bösen begegnet, die überall im Lager wütende rote ölige Schlangen aus dem Boden hatte kriechen lassen. Ihre Bisse hatten mehrere Hundert Menschen krank gemacht; die Aes Sedai hatten die meisten von ihnen mit ihrer Fähigkeit des Heilens am Leben halten können, sie aber nicht vollständig kuriert.
Faile schlummerte friedlich neben Perrin. Draußen schlug einer seiner Männer gegen einen Pfosten, um die Stunde zu schlagen. Drei Schläge. Noch Stunden bis zur Morgendämmerung.
Perrins Herz pochte leise, und er legte eine Hand auf die nackte Brust. Fast erwartete er, dass ein Heer winziger Eisenhände unter seinem Bettzeug hervorkroch.
Schließlich zwang er sich dazu, die Augen zu schließen und sich zu entspannen. Dieses Mal wollte der Schlaf nur langsam kommen.
Graendal nippte an ihrem Wein, der in einem mit Silbernetzen verzierten Kristallpokal funkelte. Der Pokal war mit Blutstropfen geschmückt, die innerhalb des Kristalls ein Ringmuster bildeten. Winzige hellrote Blasen, die für alle Ewigkeit erstarrt waren.
»Wir sollten etwas tun«, sagte Aran’gar, der sich auf dem Diwan fläzte und eines von Graendals männlichen Schoßtieren, das gerade vorbeiging, mit raubtierhaftem Hunger anstarrte. »Ich weiß nicht, wie Ihr das ertragen könnt, sich so weit abseits von den wichtigen Ereignissen aufhalten zu müssen, wie ein Gelehrter, der sich in eine staubige Ecke verkriecht.«
Graendal hob eine Braue. Ein Gelehrter? In einer staubigen Ecke? Verglichen mit einigen der Paläste, die sie im vorherigen Zeitalter kennengelernt hatte, war Natrins Hügel bescheiden, aber es war kaum eine Elendsbehausung. Die Möbel waren kostbar, die Wände mit einem Bogenmuster aus dickem, dunklen Hartholz versehen, der Bodenmarmor funkelte mit eingelegten Perlmutt- und Goldstücken.
Aran’gar wollte sie bloß provozieren. Graendal unterdrückte ihre Gereiztheit. Das Feuer im Kamin brannte nur noch niedrig, aber die Flügeltür, die auf den befestigten Wehrgang drei Stockwerke hoch in der Luft führte, stand offen und ließ die kühle Brise Landluft ein. Sie ließ nur selten ein Fenster oder eine Tür geöffnet, aber heute gefiel ihr der Kontrast: Wärme von der einen Seite, eine kühle Brise von der anderen.
Der Sinn des Lebens bestand darin, etwas zu fühlen. Berührungen der Haut, sowohl leidenschaftlich wie auch eiskalt. Alles, nur nicht das Normale, das Gewöhnliche, das Lauwarme.
»Hört Ihr mir überhaupt zu?«, fragte Aran’gar.
»Ich höre immer zu«, erwiderte Graendal, stellte den Pokal ab und setzte sich auf ihrem eigenen Diwan auf. Sie trug ein goldenes, alles verhüllendes Kleid, bis zum Hals zugeknöpft, aber dennoch durchscheinend. Was für eine wunderbare Mode diese Domani doch hatten; sie gestattete tiefe Einblicke und war doch ideal, um aufreizend zu sein.
»Ich verabscheue es, so weit abseits von den Dingen zu sein«, fuhr Aran’gar fort. »Dieses Zeitalter ist aufregend. Primitive Menschen können so interessant sein.« Die Frau mit der Elfenbeinhaut und den üppigen Kurven drückte den Rücken durch und streckte die Arme in Richtung Wand. »Wir verpassen die ganze Aufregung.«