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Graendal folgte ihm eine Weile durch den immer dunkler werdenden Wald. Eine Eule wäre besser gewesen, nur dass sie keine in Gefangenschaft hatte. Dafür schalt sie sich. Die Taube flog von Ast zu Ast. Der Waldboden war ein unordentliches Durcheinander aus Unterholz und abgefallenen Kiefernnadeln. Sie empfand das als ausgesprochen unangenehm.

Voraus glomm Lichtschein. Er war schwach, aber die Taubenaugen unterschieden mühelos zwischen Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand. Graendal bewegte das Tier dazu, sich die Sache näher anzusehen und Ramshalan zurückzulassen.

Das Licht kam aus einem Wegetor in der Mitte einer kleinen Lichtung. Ein ganzes Stück davor standen mehrere Gestalten. Eine davon war al’Thor.

Sofort verspürte Graendal eine wilde Panik. Er war hier. Schaute den Hang hinunter, in ihre Richtung. Bei der Dunkelheit! Sie hatte nicht mit Sicherheit gewusst, ob er persönlich anwesend sein oder ob Ramshalan durch ein Wegetor schreiten würde, um Bericht zu erstatten. Was für ein Spiel spielte al’Thor da? Sie landete ihre Taube auf einem Ast. Aran’gar beschwerte sich und fragte sie, was sie da sah. Die Taube war der Auserwählten nicht entgangen, und sie wusste ganz genau, was Graendal da tat.

Graendal konzentrierte sich stärker. Der Wiedergeborene Drache, der Mann, der einst Lews Therin Telamon gewesen war. Er wusste, wo sie war. Einst hatte er sie aus tiefstem Herzen gehasst; an wie viel davon erinnerte er sich? Erinnerte er sich daran, dass sie Yant ermordet hatte?

Al’Thors zahme Aiel brachten Ramshalan, und Nynaeve untersuchte ihn. Ja, diese Nynaeve schien den Zwang zu erkennen. Zumindest wusste sie, wonach sie suchen musste. Sie würde sterben müssen; al’Thor verließ sich auf sie, ihr Tod würde ihn schmerzen. Und nach ihr kam al’Thors dunkelhaarige Geliebte an die Reihe.

Graendal scheuchte die Taube auf einen tieferen Ast. Was würde al’Thor tun? Ihre Instinkte sagten ihr, dass er keine Aktion wagen würde, nicht bevor er ihren Plan ergründet hatte. Er handelte heutzutage genauso wie in ihrem Zeitalter. Er hielt viel von Planung, davon, sich Zeit zu nehmen, um einen gewaltigen Angriff langsam aufzubauen.

Sie runzelte die Stirn. Was sagte er da? Sie konzentrierte sich stärker, versuchte den Lauten einen Sinn abzuringen. Diese verfluchten Vogelohren – die Stimmen klangen wie Krächzer. Callandor? Was redete er da von Callandorl Und einer Kiste …

Greller Lichtschein flammte in seiner Hand auf. Der Zugangsschlüssel. Graendal keuchte. Dieses Ding hatte er mitgebracht? Es war beinahe genauso schlimm wie Baalsfeuer.

Plötzlich begriff sie. Man hatte sie hereingelegt.

Von eiskalter Angst gepackt ließ sie die Taube los und riss die Augen auf. Noch immer saß sie in dem kleinen, fensterlosen Raum. Aran’gar lehnte mit verschränkten Armen neben der Tür an der Wand.

Al’Thor hatte damit gerechnet, dass man Ramshalan gefangen nahm, er hatte erwartet, dass man ihn mit einem Zwang versah. Ramshalan hatte allein dem Zweck gedient, al’Thor zu bestätigen, dass sie sich in der Festung aufhielt.

Beim Licht! Wie schlau er doch geworden ist.

Sie ließ die Wahre Macht los und umarmte das weniger wunderbare Saidar. Schnell! Sie war so verstört, dass ihre Umarmung um ein Haar scheiterte. Sie schwitzte.

Weg. Sie musste hier weg.

Sie öffnete ein neues Wegetor. Aran’gar drehte sich um und starrte durch die Mauern in al’Thors Richtung. »So viel Macht! Was tut er da?«

Aran’gar. Sie und Delana hatten das Zwangsgewebe hergestellt.

Al’Thor musste Graendal für tot halten. Wenn er den Palast vernichtete und die Zwangsgewebe blieben bestehen, würde er wissen, dass er gescheitert war und Graendal noch lebte.

Gedankenschnell erschuf Graendal zwei Abschirmungen und ließ sie einrasten, eine für Aran’gar, eine für Delana. Die Frauen keuchten auf. Graendal verknotete die Gewebe und fesselte beide mit Luft.

»Graendal?«, stieß Aran’gar panisch hervor. »Was soll das …«

Es kam heran. Graendal warf sich dem Tor entgegen, rollte hindurch, zerriss sich ihr Kleid an einem Ast. Hinter ihr wogte eine blendende Lichtflut. Hastig ließ sie das Tor zuschnappen und erhaschte einen Blick auf die entsetzte Aran’gar, bevor eine wunderschöne, reine Helligkeit alles hinter ihr verschlang.

Das Wegetor verschwand und ließ Graendal in Dunkelheit zurück.

Mit wild pochendem Herzen blieb sie dort liegen, um ein Haar geblendet vom grellen Licht. Sie hatte das schnellste Tor erschaffen, zu dem sie fähig war, das sie nur eine kurze Distanz fortbrachte. Sie lag im schmutzigen Unterholz auf einem Hügelkamm hinter dem Palast.

Eine Welle aus Falschheit überrollte sie, verzerrte die Luft. Das Muster selbst krümmte sich. Das nannte man auch Baalsschrei – ein Augenblick, in dem die Schöpfung selbst vor Schmerzen gequält aufschrie.

Am ganzen Körper zitternd, rang sie keuchend nach Luft. Aber sie musste es sehen. Sie musste es wissen. Sie stand auf. Der linke Knöchel war verstaucht. Sie humpelte zum Waldrand und schaute nach unten.

Natrins Hügel war weg – der ganze Palast. Aus dem Muster gebrannt. Sie konnte al’Thor auf seinem fernen Hügelkamm nicht sehen, aber sie wusste, wo er war.

»Du«, knurrte sie. »Du bist viel gefährlicher geworden, als ich je gedacht hätte.«

Hunderte schöner Männer und Frauen, die besten, die sie je um sich geschart hatte – weg. Ihre Festung, Dutzende Gegenstände der Macht, ihr bester Verbündeter unter den Auserwählten. Weg. Das war eine Katastrophe.

Nein, dachte sie. Ich lebe. Sie war ihm zuvorgekommen, wenn auch nur knapp. Jetzt würde er sie für tot halten.

Plötzlich war sie viel sicherer als je zuvor, seit sie aus dem Gefängnis des Dunklen Königs entkommen war. Allerdings hatte sie gerade den Tod eines Auserwählten verschuldet. Der Große Herr würde nicht erfreut sein.

Sie hinkte vom Kamm und plante bereits ihren nächsten Zug. Das würde man alles sehr sorgfältig in die Wege leiten müssen.

Galad Damodred, Kommandierender Lordhauptmann der Kinder des Lichts, zog seinen Stiefel mit einem schmatzenden Laut aus dem knöcheltiefen Schlamm.

Mücken summten in der feuchtwarmen Luft. Der Gestank nach Schlamm und stehendem Wasser drohte ihn bei jedem Atemzug würgen zu lassen, während er sein Pferd auf trockeneren Boden zog. Hinter ihm schleppte sich eine lange, vier Männer breite Marschreihe dahin, von denen jeder genauso dreckig, verschwitzt und müde wie er war.

Sie befanden sich an der Grenze zwischen Ghealdan und Altara, in einem sumpfigen Feuchtland, in dem Eichen Lorbeerbäumen und spinnenhaften Zypressen gewichen waren, deren knorrige Wurzeln sich wie Knochenfinger spreizten.

Trotz des Schattens und der dichten Wolkendecke war die stinkende Luft heiß und dick. Als würde man eine faulige Suppe einatmen. Unter seinem Brustpanzer und Kettenhemd dampfte Galad förmlich; der konisch geformte Helm hing am Sattel. Seine Haut juckte von Dreck und salzigem Schweiß.

So elendig dieser Weg auch war, es war die beste Route. Asunawa würde nicht damit rechnen. Galad fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und bemühte sich für die Männer hinter ihm um einen aufrechten Gang mit hoch erhobenem Haupt. Siebentausend Männer, die sich für ihn statt für die seanchanischen Eindringlinge entschieden hatten.

Mattgrünes Moos hing von den Ästen wie Fleischfetzen von verfaulenden Leichen. Hier und da lockerten Farbexplosionen aus sich um dahinplätschernde Bäche drängende rosafarbene oder violette Blüten das kränklich erscheinende Grau und Grün auf. Die plötzlichen bunten Flecken kamen unerwartet, als hätte jemand wahllos Farbe auf dem Boden verspritzt.