Aber Gigi schüttelte traurig den Kopf und sagte:»Ich kann nichts von dem verstehen, was du sagst, denn in meinem Herzen ist ein Knoten und deshalb kann ich mich an nichts erinnern. «
Da griff Prinzessin Momo in seine Brust und löste ganz leicht den Knoten seines Herzens auf. Und nun wusste Prinz Girolamo plötzlich wieder, wer er war und wo er hingehörte. Er nahm die Prinzessin bei der Hand und ging mit ihr weit fort - in die Ferne, wo das Morgen-Land liegt.«
Nachdem Gigi geendet hatte, schwiegen sie beide ein Weilchen, dann fragte Momo:»Und sind sie später Mann und Frau geworden?«
»Ich glaube schon«, sagte Gigi,» - später.«
»Und sind sie inzwischen gestorben?«
»Nein«, sagte Gigi bestimmt,»das weiß ich zufällig genau. Der Zauberspiegel machte einen nur sterblich, wenn man allein hineinblickte. Schaute man aber zu zweit hinein, dann wurde man wieder unsterblich. Und das haben die beiden getan.«
Groß und silbern stand der Mond über den schwarzen Pinien und ließ die alten Steine der Ruine geheimnisvoll glänzen. Momo und Gigi saßen still nebeneinander und blickten lange zu ihm hinauf und sie fühlten ganz deutlich, dass sie für die Dauer dieses Augenblicks beide unsterblich waren.
ZWEITER TEIL:
DIE GRAUEN HERREN
SECHSTES KAPITEL
Die Rechnung ist falsch und geht doch auf
Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen - je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne.
Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne dass jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.
Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende selbst etwas davon ahnte. Sie warteten nur den richtigen Augenblick ab, in dem sie ihn fassen konnten. Und sie taten das Ihre dazu, dass dieser Augenblick eintrat.
Da war zum Beispiel Herr Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war klein und er beschäftigte einen Lehrjungen.
Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte, es war ein grauer Tag und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter.
»Mein Leben geht so dahin«, dachte er,»mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.«
Es war nun durchaus nicht so, dass Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte es sogar sehr den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinanderzusetzen und von ihnen zu hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ausgesprochenes Vergnügen und er wusste, dass er sie gut machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner über. Aber es gibt eben manchmal Augenblicke, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht jedem so.
»Mein ganzes Leben ist verfehlt«, dachte Herr Fusi.»Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!«
Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgendetwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah.
»Aber«, dachte er missmutig,»für so etwas lässt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muss man Zeit haben. Man muss frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum.«
In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.
Herr Fusi schloss die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.
»Womit kann ich dienen?«, fragte er verwirrt.»Rasieren oder Haare schneiden?«, und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze.
»Keines von beidem«, sagte der graue Herr ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme.»Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, dass Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.«
»Das ist mir neu«, erklärte Herr Fusi noch verwirrter.»Offen gestanden, ich wusste bisher nicht einmal, dass es ein solches Institut überhaupt gibt.«
»Nun, jetzt wissen Sie es«, antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort:»Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?«
»Ganz recht, der bin ich«, versetzte Herr Fusi.
»Dann bin ich an der rechten Stelle«, meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu.»Sie sind Anwärter bei uns.«
»Wie das?«, fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.
»Sehen Sie, lieber Herr Fusi«, sagte der Agent,»Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich Recht?«
»Darüber habe ich eben nachgedacht«, murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.»Na, sehen Sie!«, erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. »Aber woher nimmt man Zeit? Man muss sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?«»Gewiss«, sagte Herr Fusi.