Alle schwiegen.
Und plötzlich fing der Junge, der den ganzen Nachmittag der Spielverderber gewesen war, zu weinen an. Er versuchte es zu unterdrücken und wischte sich die Augen mit seinen schmutzigen Fäusten, aber die Tränen liefen in hellen Streifen durch die Schmutzflecken auf seinen Wangen.
Die anderen Kinder sahen ihn teilnahmsvoll an oder blickten zu Boden. Sie verstanden ihn nun. Eigentlich war jedem von ihnen ebenso zumute. Sie fühlten sich alle im Stich gelassen.
»Ja«, sagte der alte Beppo nach einer Weile noch einmal,»es wird kalt.«
»Ich darf vielleicht bald nicht mehr kommen«, sagte Paolo, der Junge mit der Brille.
»Warum denn nicht?«, fragte Momo verwundert.
»Meine Eltern haben gesagt«, erklärte Paolo,»ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit, haben sie gesagt. Deswegen habt ihr so viel. Und weil es von eurer Sorte viel zu viele gibt, haben andere Leute immer weniger Zeit, sagen sie. Und ich soll nicht mehr hierher kommen, weil ich sonst genauso werde wie ihr.«
Wieder nickten einige der Kinder, denen man schon Ähnliches gesagt hatte.
Giei blickte die Kinder der Reihe nach an.»Glaubt ihr das etwa auch von uns? Oder warum kommt ihr trotzdem?«
Nach kurzem Stillschweigen meinte Franco:»Mir ist das gleich. Ich werd ja später sowieso Straßenräuber, sagt mein Alter immer. Ich bin auf eurer Seite.«
»Ach so«, sagte Gigi und zog die Augenbrauen hoch,»ihr haltet uns also auch für Tagediebe?«
Die Kinder schauten verlegen zu Boden. Schließlich blickte Paolo dem alten Beppo forschend ins Gesicht.
»Meine Eltern lügen doch nicht«, sagte er leise. Und dann fragte er noch leiser:»Seid ihr denn keine?«
Da erhob sich der alte Straßenkehrer in seiner ganzen, nicht sehr beträchtlichen Größe, streckte drei Finger in die Höhe und sprach:»Ich hab noch nie - noch niemals habe ich in meinem Leben dem lieben Gott oder einem Mitmenschen das kleinste bisschen Zeit gestohlen. Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe!«
»Ich auch!«, fügte Momo hinzu.
»Und ich auch!«, sagte Gigi ernst.
Die Kinder schwiegen beeindruckt. Keines unter ihnen bezweifelte die Worte der drei Freunde.
»Und überhaupt, jetzt will ich euch mal was sagen«, fuhr Gigi fort.»Früher sind die Leute immer gern zu Momo gekommen, damit sie ihnen zuhört. Sie haben sich dabei selbst gefunden, wenn ihr versteht, was ich meine. Aber jetzt fragen sie danach nicht mehr viel. Früher sind die Leute auch immer gern gekommen, um mir zuzuhören. Dabei haben sie sich selbst vergessen. Danach fragen sie auch nicht mehr viel. Sie haben keine Zeit mehr für so was, sagen sie. Und für euch haben sie auch keine Zeit mehr. Merkt ihr was? Es ist doch merkwürdig, wofür sie keine Zeit mehr haben!«
Er machte die Augen schmal und nickte. Dann fuhr er fort:»Neulich habe ich in der Stadt einen alten Bekannten getroffen, einen Friseur, Fusi heißt er. Ich hatte ihn eine Weile nicht mehr gesehen und hätte ihn bald nicht mehr wiedererkannt, so verändert war er, nervös, mürrisch, freudlos. Früher war er ein netter Kerl gewesen, konnte sehr hübsch singen und hatte über alles seine ganz besonderen Gedanken. Für alles das hat er plötzlich keine Zeit mehr. Der Mann ist nur noch sein eigenes Gespenst, er ist überhaupt nicht mehr Fusi, versteht ihr? Wenn er's nur allein wäre, dann würde ich einfach denken, dass er ein bisschen verrückt geworden ist. Aber wo man hinschaut, sieht man solche Leute. Und es werden immer mehr. Jetzt fangen sogar unsere alten Freunde auch damit an! Ich frage mich wirklich, ob es Verrücktheit gibt, die ansteckend ist?«
Der alte Beppo nickte.»Bestimmt«, sagte er,»es muss eine Art Ansteckung sein.«
»Aber dann«, meinte Momo ganz bestürzt,»müssen wir unseren Freunden doch helfen!«
An diesem Abend berieten sie alle gemeinsam noch lang, was sie tun könnten. Aber von den grauen Herren und deren rastloser Tätigkeit ahnten sie nichts.
Während der nächsten Tage machte Momo sich auf die Suche nach ihren alten Freunden, um von ihnen zu erfahren, was los war und warum sie nicht mehr zu ihr kamen.
Zuerst ging sie zu Nicola, dem Maurer. Sie kannte das Haus gut, wo er oben unter dem Dach ein kleines Zimmer bewohnte. Aber er war nicht da. Die anderen Leute im Haus wussten nur, dass er jetzt drüben in den großen Neubauvierteln auf der anderen Seite der Stadt arbeite und eine Menge Geld verdiene. Er käme jetzt nur noch selten nach Hause und wenn, dann meistens sehr spät. Er sei jetzt auch oft nicht mehr ganz nüchtern und man könne überhaupt nicht mehr gut mit ihm auskommen.
Momo beschloss, auf ihn zu warten. Sie setzte sich vor seine Zimmertür auf die Treppe. Es wurde langsam dunkel und sie schlief ein. Es musste schon spät in der Nacht sein, als sie durch polternde Schritte und rauen Gesang geweckt wurde. Es war Nicola, der die Treppe heraufschwankte. Als er das Kind sah, blieb er verdutzt stehen.
»He, Momo!«, brummte er und es bereitete ihm sichtlich Verlegenheit, dass sie ihn so sah.»Gibt's dich auch noch! Was suchst du denn hier?«
»Dich«, antwortete Momo schüchtern.
»Na, du bist mir vielleicht eine!«, sagte Nicola und schüttelte lächelnd den Kopf.»Kommt hier mitten in der Nacht her, um nach ihrem alten Freund Nicola zu sehen. Ja, ich hätte dich ja auch schon längst mal wieder besucht, aber ich hab einfach keine Zeit mehr für solche… Privatsachen.«
Er machte eine fahrige Bewegung mit der Hand und setzte sich schwer neben Momo auf die Treppe.
»Was meinst du, was bei mir jetzt los ist, Kind! Das ist nicht mehr wie früher. Die Zeiten ändern sich. Da drüben, wo ich jetzt bin, da wird ein anderes Tempo vorgelegt. Das geht wie der Teufel. Jeden Tag hauen wir ein ganzes Stockwerk drauf, eins nach dem anderen. Ja, das ist eine andere Sache als früher! Da ist alles organisiert, jeder Handgriff, verstehst du, bis ins Letzte hinein…«
Er redete weiter und Momo hörte ihm aufmerksam zu. Und je länger sie das tat, desto weniger begeistert klang seine Rede. Plötzlich hielt er inne und wischte sich mit seinen schwieligen Händen übers Gesicht.»Alles Unsinn, was ich da rede«, sagte er auf einmal traurig.»Du siehst, Momo, ich hab wieder mal zu viel getrunken. Ich geb's zu. Ich trink jetzt oft zu viel. Anders kann ichs nicht aushalten, was wir da machen. Das geht einem ehrlichen Maurer gegen das Gewissen. Viel zu viel Sand im Mörtel, verstehst du? Das hält alles vier, fünf Jahre, dann fällt es zusammen, wenn einer hustet. Alles Pfusch, hundsgemeiner Pfusch! Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind die Häuser, die wir da bauen. Das sind überhaupt keine Häuser, das sind - das sind - Seelensilos sind das! Da dreht sich einem der Magen um! Aber was geht mich das alles an? Ich kriege eben mein Geld und basta. Na ja, die Zeiten ändern sich. Früher, da war das anders bei mir, da war ich stolz auf meine Arbeit, wenn wir was gebaut hatten, was sich sehen lassen konnte. Aber jetzt… Irgendwann, wenn ich genug verdient hab, häng ich meinen Beruf an den Nagel und mach was anderes.«
Er ließ den Kopf hängen und starrte trübe vor sich hin. Momo sagte nichts, sie hörte ihm nur zu.
»Vielleicht«, fuhr Nicola leise nach einer Weile fort,»sollte ich wirklich mal wieder zu dir kommen und dir alles erzählen. Ja, wirklich, das sollte ich. Sagen wir gleich morgen, ja? Oder lieber übermorgen? Na, ich muss sehen, wie ich's einrichten kann. Aber ich komm bestimmt. Also, abgemacht?«
»Abgemacht«, antwortete Momo und freute sich. Und dann trennten sie sich, denn sie waren beide sehr müde.