Momo nickte stumm, aber noch nicht ganz überzeugt.
»Du sagst, dass du Momo heißt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das ist ein hübscher Name, aber ich hab ihn noch nie gehört. Wer hat dir denn den Namen gegeben?«
»Ich«, sagte Momo.
»Du hast dich selbst so genannt?«
»Ja.«
»Wann bist du denn geboren?«
Momo überlegte und sagte schließlich:»Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da.«
»Hast du denn keine Tante, keinen Onkel, keine Großmutter, überhaupt keine Familie, wo du hin kannst?«
Momo schaute den Mann nur an und schwieg eine Weile. Dann murmelte sie:»Ich bin hier zu Hause.«
»Na ja«, meinte der Mann,»aber du bist doch ein Kind - wie alt bist du eigentlich?«
»Hundert«, sagte Momo zögernd.
Die Leute lachten, weil sie es für einen Spaß hielten.
»Also, ernsthaft, wie alt bist du?«
»Hundertzwei«, antwortete Momo, noch ein wenig unsicherer.
Es dauerte eine Weile, bis die Leute merkten, dass das Kind nur ein paar Zahlwörter kannte, die es aufgeschnappt hatte, sich aber nichts Bestimmtes darunter vorstellen konnte, weil niemand es zählen gelehrt hatte.
»Hör mal«, sagte der Mann, nachdem er sich mit den anderen beraten hatte,»wäre es dir recht, wenn wir der Polizei sagen, dass du hier bist? Dann würdest du in ein Heim kommen, wo du zu essen kriegst und ein Bett hast und wo du rechnen und lesen und schreiben und noch viel mehr lernen kannst. Was hältst du davon, eh?«
Momo sah ihn erschrocken an.
»Nein«, murmelte sie,»da will ich nicht hin. Da war ich schon mal. Andere Kinder waren auch da. Da waren Gitter an den Fenstern. Jeden Tag gab's Prügel - aber ganz ungerecht. Da bin ich nachts über die Mauer und weggelaufen. Da will ich nicht wieder hin.«
»Das kann ich verstehen«, sagte ein alter Mann und nickte. Und die anderen Leute konnten es auch verstehen und nickten.
»Also gut«, sagte eine Frau,»aber du bist doch noch klein. Irgendwer muss doch für dich sorgen.«
»Ich«, antwortete Momo erleichtert.
»Kannst du das denn?«, fragte die Frau.
Momo schwieg eine Weile und sagte dann leise:»Ich brauch nicht viel.«
Wieder wechselten die Leute Blicke, seufzten und nickten.»Weißt du, Momo«, ergriff nun wieder der Mann das Wort, der zuerst gesprochen hatte,»wir meinen, du könntest vielleicht bei einem von uns unterkriechen. Wir haben zwar selber alle nur wenig Platz, und die meisten haben schon einen Haufen Kinder, die gefüttert sein wollen, aber wir meinen, auf einen mehr kommt es dann auch schon nicht mehr an. Was hältst du davon, eh?«
»Danke«, sagte Momo und lächelte zum ersten Mal,»vielen Dank! Aber könntet ihr mich nicht einfach hier wohnen lassen?«
Die Leute berieten lange hin und her, und zuletzt waren sie einverstanden. Denn hier, so meinten sie, könne das Kind schließlich genauso gut wohnen wie bei einem von ihnen, und sorgen wollten sie alle gemeinsam für Momo, weil es für alle zusammen sowieso einfacher wäre als für einen allein.
Sie fingen gleich an, indem sie zunächst einmal die halb eingestürzte steinerne Kammer, in der Momo hauste, aufräumten und instand setzten, so gut es ging. Einer von ihnen, der Maurer war, baute sogar einen kleinen steinernen Herd. Ein rostiges Ofenrohr wurde auch aufgetrieben. Ein alter Schreiner nagelte aus ein paar Kistenbrettern ein Tischchen und zwei Stühle zusammen. Und schließlich brachten die Frauen noch ein ausgedientes, mit Schnörkeln verziertes Eisenbett, eine Matratze, die nur wenig zerrissen war, und zwei Decken. Aus dem steinernen Loch unter der Bühne der Ruine war ein behagliches kleines Zimmerchen geworden. Der Maurer, der künstlerische Fähigkeiten besaß, malte zuletzt noch ein hübsches Blumenbild an die Wand. Sogar den Rahmen und den Nagel, an dem das Bild hing, malte er dazu. Und dann kamen die Kinder der Leute und brachten, was man an Essen erübrigen konnte, das eine ein Stückchen Käse, das andere einen kleinen Brotwecken, das dritte etwas Obst und so fort. Und da es sehr viele Kinder waren, kam an diesem Abend eine solche Menge zusammen, dass sie alle miteinander im Amphitheater ein richtiges kleines Fest zu Ehren von Momos Einzug feiern konnten. Es war ein so vergnügtes Fest, wie nur arme Leute es zu feiern verstehen. So begann die Freundschaft zwischen der kleinen Momo und den Leuten der näheren Umgebung.
ZWEITES KAPITEL
Eine ungewöhnliche Eigenschaft und ein ganz gewöhnlicher Streit
Von nun an ging es der kleinen Momo gut, jedenfalls nach ihrer eigenen Meinung. Irgendetwas zu essen hatte sie jetzt immer, mal mehr, mal weniger, wie es sich eben fügte und wie die Leute es entbehren konnten. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, sie hatte ein Bett und sie konnte sich, wenn es kalt war, ein Feuer machen. Und was das Wichtigste war: Sie hatte viele gute Freunde.
Man könnte nun denken, dass Momo ganz einfach großes Glück gehabt hatte, an so freundliche Leute geraten zu sein -, und Momo selbst war durchaus dieser Ansicht. Aber auch für die Leute stellte sich schon bald heraus, dass sie nicht weniger Glück gehabt hatten. Sie brauchten Momo und sie wunderten sich, wie sie früher ohne sie ausgekommen waren. Und je länger das kleine Mädchen bei ihnen war, desto unentbehrlicher wurde es ihnen, so unentbehrlich, dass sie nur noch fürchteten, es könnte eines Tages wieder auf und davon gehen. So kam es, dass Momo sehr viel Besuch hatte. Man sah fast immer jemand bei ihr sitzen, der angelegentlich mit ihr redete. Und wer sie brauchte und nicht kommen konnte, schickte nach ihr, um sie zu holen. Und wer noch nicht gemerkt hatte, dass er sie brauchte, zu dem sagten die andern:»Geh doch zu Momo!«
Dieser Satz wurde nach und nach zu einer feststehenden Redensart bei den Leuten der näheren Umgebung. So wie man sagt:»Alles Gute!«oder»Gesegnete Mahlzeit!«oder»Weiß der liebe Himmel!«, genauso sagte man also bei allen möglichen Gelegenheiten:»Geh doch zu Momo!«Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, dass sie jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte sie weise und gerechte Urteile fällen?
Nein, das alles konnte Momo ebenso wenig wie jedes andere Kind. Konnte Momo dann vielleicht irgendetwas, das die Leute in gute Laune versetzte? Konnte sie zum Beispiel besonders schön singen? Oder konnte sie irgendein Instrument spielen? Oder konnte sie - weil sie doch in einer Art Zirkus wohnte - am Ende gar tanzen oder akrobatische Kunststücke vorführen? Nein, das war es auch nicht.
Konnte sie vielleicht zaubern? Wusste sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonst wie die Zukunft voraussagen?
Nichts von alledem.
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.
Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanke kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf - und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!