»Nein, mein Ehrenwort!«
»Na, also. Dann wolltest du mich doch hereinlegen. Wie konntest du mir sonst für das wertlose Stück Zeitungspapier mein Radio abnehmen, he?«
»Und wieso hast du von dem Geld gewusst?«
»Ich hab gesehen, wie es zwei Abende vorher ein Gast als Opfergabe für den heiligen Antonius dort hineingesteckt hat.«
Nino biss sich auf die Lippen.»War es viel?«
»Nicht mehr und nicht weniger, als mein Radio wert war«, antwortete Nicola.
»Dann geht unser ganzer Streit«, meinte Nino nachdenklich,»eigentlich bloß um den heiligen Antonius, den ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe.«Nicola kratzte sich am Kopf.
»Eigentlich ja«, brummte er,»du kannst ihn gern wiederhaben, Nino.«
»Aber nicht doch!«, antwortete Nino würdevoll.»Getauscht ist getauscht! Ein Handschlag gilt unter Ehrenmännern!«
Und plötzlich fingen beide gleichzeitig an zu lachen. Sie kletterten die steinernen Stufen hinunter, trafen sich in der Mitte des grasbewachsenen runden Platzes, umarmten einander und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Dann nahmen sie beide Momo in den Arm und sagten:»Vielen Dank!«
Als sie nach einer Weile abzogen, winkte Momo ihnen noch lange nach. Sie war sehr zufrieden, dass ihre beiden Freunde nun wieder gut miteinander waren.
Ein anderes Mal brachte ihr ein kleiner Junge seinen Kanarienvogel, der nicht singen wollte. Das war eine viel schwerere Aufgabe für Momo. Sie musste ihm eine ganze Woche lang zuhören, bis er endlich wieder zu trillern und zu jubilieren begann.
Momo hörte allen zu, den Hunden und Katzen, den Grillen und Kröten, ja, sogar dem Regen und dem Wind in den Bäumen. Und alles sprach zu ihr auf seine Weise.
An manchen Abenden, wenn alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch lange allein in dem großen steinernen Rund des alten Theaters, über dem sich der sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach auf die große Stille.
Dann kam es ihr so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in die Sternenwelt hinaushorchte. Und es war ihr, als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging.
In solchen Nächten hatte sie immer besonders schöne Träume. Und wer nun noch immer meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.
DRITTES KAPITEL
Ein gespielter Sturm und ein wirkliches Gewitter
Es versteht sich wohl von selbst, dass Momo beim Zuhören keinerlei Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern machte. Aber die Kinder kamen noch aus einem anderen Grund so gern in das alte Amphitheater. Seit Momo da war, konnten sie so gut spielen wie nie zuvor. Es gab einfach keine langweiligen Augenblicke mehr. Das war nicht etwa deshalb so, weil Momo so gute Vorschläge machte. Nein, Momo war nur einfach da und spielte mit. Und eben dadurch - man weiß nicht wie - kamen den Kindern selbst die besten Ideen. Täglich erfanden sie neue Spiele, eines schöner als das andere.
Einmal, an einem schwülen, drückenden Tag, saßen etwa zehn, elf Kinder auf den steinernen Stufen und warteten auf Momo, die ein wenig ausgegangen war, um in der Gegend umherzustreifen, wie sie es manchmal tat. Am Himmel hingen dicke schwarze Wolken. Wahrscheinlich würde es bald ein Gewitter geben.
»Ich geh lieber heim«, sagte ein Mädchen, das ein kleines Geschwisterchen bei sich hatte,»ich hab Angst vor Blitz und Donner.«
»Und zu Hause?«, fragte ein Junge, der eine Brille trug.»Hast du zu Hause vielleicht keine Angst davor?«
»Doch«, antwortete das Mädchen.
»Dann kannst du genauso gut hier bleiben«, meinte der Junge.
Das Mädchen zuckte die Schultern und nickte. Nach einer Weile sagte sie:»Aber Momo kommt vielleicht gar nicht.«
»Na und?«, mischte sich nun ein Junge ins Gespräch, der etwas verwahrlost aussah.»Deswegen können wir doch trotzdem irgendwas spielen - auch ohne Momo.«
»Gut, aber was?«
»Ich weiß auch nicht. Irgendwas eben.«
»Irgendwas ist nichts. Wer hat einen Vorschlag?«
»Ich weiß was«, sagte ein dicker Junge mit einer hohen Mädchenstimme,»wir könnten spielen, dass die ganze Ruine ein großes Schiff ist und wir fahren in unbekannte Meere und erleben Abenteuer. Ich bin der Kapitän, du bist der Erste Steuermann, und du bist ein Naturforscher, ein Professor, weil es nämlich eine Forschungsreise ist, versteht ihr? Und die anderen sind Matrosen.«
»Und wir Mädchen, was sind wir?«
»Matrosinnen. Es ist ein Zukunftsschiff.«
Das war ein guter Plan! Sie versuchten zu spielen, aber sie konnten sich nicht recht einig werden, und das Spiel kam nicht in Fluss. Nach kurzer Zeit saßen alle wieder auf den steinernen Stufen und warteten. Und dann kam Momo.
Hoch rauschte die Bugwelle auf. Das Forschungsschiff»Argo«schwankte leise in der Dünung auf und nieder, während es in ruhiger Fahrt mit voller Kraft voraus in das südliche Korallenmeer vordrang. Seit Menschengedenken hatte kein Schiff es mehr gewagt diese gefährlichen Gewässer zu befahren, denn es wimmelte hier von Untiefen, von Korallenriffen und von unbekannten Seeungeheuern. Und vor allem gab es hier den sogenannten»Ewigen Taifun«, einen Wirbelsturm, der niemals zur Ruhe kam. Immerwährend wanderte er auf diesem Meer umher und suchte nach Beute wie ein lebendiges, ja sogar listiges Wesen. Sein Weg war unberechenbar. Und alles, was dieser Orkan einmal in seinen riesenhaften Klauen hatte, das ließ er nicht eher wieder los, als bis er es in streichholzdünne Splitter zertrümmert hatte.
Freilich, das Forschungsschiff»Argo«war in besonderer Weise für eine Begegnung mit diesem»Wandernden Wirbelsturm«ausgerüstet. Es bestand ganz und gar aus blauem Alamont-Stahl, der biegsam und unzerbrechlich war wie eine Degenklinge. Und es war durch ein besonderes Herstellungsverfahren aus einem einzigen Stück gegossen, ohne Naht- und Schweißstelle.
Dennoch hätte wohl schwerlich ein anderer Kapitän und eine andere Mannschaft den Mut gehabt, sich diesen unerhörten Gefahren auszusetzen. Kapitän Gordon jedoch hatte ihn. Stolz blickte er von der Kommandobrücke auf seine Matrosen und Matrosinnen hinunter, die alle erprobte Fachleute auf ihren jeweiligen Spezialgebieten waren. Neben dem Kapitän stand sein Erster Steuermann, Don Melú, ein Seebär von altem Schrot und Korn, der schon hundertsiebenundzwanzig Orkane überstanden hatte.
Weiter hinten auf dem Sonnendeck sah man Professor Eisenstein, den wissenschaftlichen Leiter der Expedition, mit seinen Assistentinnen Maurin und Sara, die ihm beide mit ihrem enormen Gedächtnis ganze Bibliotheken ersetzten. Alle drei standen über ihre Präzisionsinstrumente gebeugt und beratschlagten leise miteinander in ihrer komplizierten Wissenschaftlersprache.
Ein wenig abseits von ihnen saß die schöne Eingeborene Momosan mit untergeschlagenen Beinen. Ab und zu befragte der Forscher sie wegen besonderer Einzelheiten dieses Meeres und sie antwortete ihm in ihrem wohlklingenden Hula-Dialekt, den nur der Professor verstand.
Ziel der Expedition war es, die Ursache für den»Wandernden Taifun«zu finden und wenn möglich zu beseitigen, damit dieses Meer auch für andere Schiffe wieder befahrbar werden würde. Aber noch war alles ruhig, und von dem Sturm war nichts zu spüren.
Plötzlich riss ein Schrei des Mannes im Ausguck den Kapitän aus seinen Gedanken.
»Käpt'n«, rief er durch die hohle Hand herunter,»entweder bin ich verrückt oder ich sehe tatsächlich eine gläserne Insel da vorn!«
Der Kapitän und Don Melú blickten sofort durch ihre Fernrohre. Auch Professor Eisenstein und seine Assistentinnen kamen interessiert herbei. Nur die schöne Eingeborene blieb gelassen sitzen. Die rätselhaften Sitten ihres Volkes verboten es ihr Neugier zu zeigen. Die gläserne Insel war bald erreicht. Der Professor stieg über die Strickleiter an der Außenwand des Schiffes hinunter und betrat den durchsichtigen Boden. Dieser war außerordentlich glitschig und Professor Eisenstein hatte alle Mühe sich auf den Beinen zu halten. Die ganze Insel war kreisrund und hatte schätzungsweise zwanzig Meter Durchmesser. Nach der Mitte zu stieg sie an wie ein Kuppeldach. Als der Professor die höchste Stelle erreicht hatte, konnte er deutlich einen pulsierenden Lichtschein tief im Innern dieser Insel wahrnehmen.