Nur Momo konnte so lange warten und verstand, was er sagte. Sie wusste, dass er sich so viel Zeit nahm, um niemals etwas Unwahres zu sagen. Denn nach seiner Meinung kam alles Unglück der Welt von den vielen Lügen, den absichtlichen, aber auch den unabsichtlichen, die nur aus Eile oder Ungenauigkeit entstehen.
Er fuhr jeden Morgen lange vor Tagesanbruch mit seinem alten, quietschenden Fahrrad in die Stadt zu einem großen Gebäude. Dort wartete er in einem Hof zusammen mit seinen Kollegen, bis man ihm einen Besen und einen Karren gab und ihm eine bestimmte Straße zuwies, die er kehren sollte.
Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Er wusste, es war eine sehr notwendige Arbeit.
Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt - Atemzug - Besenstrich. Schritt - Atemzug - Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter - Schritt - Atemzug - Besenstrich____________________.
Während er sich so dahinbewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die saubere, kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedanken, die sich so schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich nur gerade eben noch erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat. Nach der Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da sie auf ihre besondere Art zuhörte, löste sich seine Zunge, und er fand die richtigen Worte.
»Siehst du, Momo«, sagte er dann zum Beispiel,»es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.«
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort:»Und dann fängt man an sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.«
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter:»Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.«
Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte:»Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.«
Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort:»Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.«Er nickte vor sich hin und sagte abschließend:»Das ist wichtig.«
Oder ein anderes Mal kam er, setzte sich schweigend neben Momo und sie sah, dass er nachdachte und etwas ganz Besonderes sagen wollte.
Plötzlich blickte er ihr in die Augen und begann:»Ich hab uns wiedererkannt.«Es dauerte lange, ehe er mit leiser Stimme fortfuhr:»Das gibt es manchmal - am Mittag -, wenn alles in der Hitze schläft. - Dann wird die Welt durchsichtig. - Wie ein Fluss, verstehst du? - Man kann auf den Grund sehen.«
Er nickte und schwieg ein Weilchen, dann sagte er noch leiser:»Da liegen andere Zeiten, da unten auf dem Grund.«
Wieder dachte er lange nach und suchte nach den richtigen Worten. Aber er schien sie noch nicht zu finden, denn er erklärte auf einmal in ganz gewöhnlichem Ton:»Heute war ich an der alten Stadtmauer zum Kehren. Da sind fünf Steine von einer anderen Farbe in der Mauer. So, verstehst du?«
Und er zeichnete mit dem Finger in den Staub ein großes T. Er betrachtete es mit schrägem Kopf, dann flüsterte er plötzlich:»Ich hab sie wiedererkannt, die Steine.«
Nach einer weiteren Pause fuhr er stockend fort:»Das waren solche anderen Zeiten, damals, als die Mauer gebaut wurde. - Viele haben da gearbeitet. - Aber zwei waren dabei, die haben die Steine dort hineingemauert. - Es war ein Zeichen, verstehst du? - Ich hab's wiedererkannt.«
Er strich sich mit der Hand über die Augen. Es schien ihn anzustrengen, was er sagen wollte, denn als er nun weitersprach, klangen seine Worte mühsam:»Sie haben anders ausgesehen, die zwei damals, ganz anders.«Dann stieß er in abschließendem Ton und beinahe zornig hervor:»Aber ich habe uns wiedererkannt - dich und mich. Ich habe uns wiedererkannt!«
Man kann es den Leuten nicht verübeln, dass sie lächelten, wenn sie Beppo Straßenkehrer so reden hörten, und manche tippten sich hinter seinem Rücken an die Stirn. Aber Momo hatte ihn lieb und bewahrte alle seine Worte in ihrem Herzen.
Der andere beste Freund, den Momo hatte, war jung und in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Beppo Straßenkehrer. Er war ein hübscher Bursche mit verträumten Augen, aber einem schier unglaublichen Mundwerk. Er steckte immer voller Spaße und Flausen und konnte so leichtsinnig lachen, dass man einfach mitlachen musste, ob man wollte oder nicht. Sein Name war Girolamo, aber er wurde einfach Gigi gerufen. Da wir den alten Beppo nach seinem Beruf genannt haben, wollen wir es bei Gigi genauso halten, obwohl er überhaupt keinen richtigen Beruf hatte. Nennen wir ihn also Gigi Fremdenführer. Aber wie gesagt, Fremdenführer war nur einer von vielen Berufen, die er je nach Gelegenheit ausübte, und er war es durchaus nicht von Amts wegen.
Die einzige Voraussetzung, die er für diese Tätigkeit besaß, war eine Schirmmütze. Die setzte er sofort auf, wenn sich tatsächlich einmal ein paar Reisende in diese Gegend verirrten. Dann trat er mit ernster Miene auf sie zu und bot ihnen an sie herumzuführen und ihnen alles zu erklären. Wenn die Fremden sich darauf einließen, dann legte er los und erzählte das Blaue vom Himmel herunter. Er warf mit erfundenen Ereignissen, Namen und Jahreszahlen um sich, dass den armen Zuhörern ganz wirr im Kopf wurde. Manche merkten es und gingen ärgerlich davon, aber die meisten nahmen alles für bare Münze und bezahlten deshalb auch in barer Münze, wenn Gigi zuletzt seine Schirmmütze hinhielt.
Die Leute aus der näheren Umgebung lachten über Gigis Einfalle, aber manchmal machten sie auch bedenkliche Gesichter und meinten, es ginge doch eigentlich nicht an, sich für Geschichten, die bloß erfunden seien, auch noch gutes Geld geben zu lassen.
»Das machen doch alle Dichter«, sagte Gigi dann.»Und haben die Leute vielleicht nichts bekommen für ihr Geld? Ich sage euch, sie haben genau das bekommen, was sie wollten! Und was macht es für einen Unterschied, ob das alles in einem gelehrten Buch steht oder nicht? Wer sagt euch denn, dass die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr?«
Oder ein anderes Mal meinte er:»Ach, was heißt überhaupt wahr oder nicht wahr? Wer kann schon wissen, was hier vor tausend oder zweitausend Jahren passiert ist? Wisst ihr es vielleicht?«
»Nein«, gaben die andern zu.
»Na also!«, rief Gigi Fremdenführer.»Wieso könnt ihr dann einfach behaupten, dass meine Geschichten nicht wahr sind? Es kann doch zufällig genau so passiert sein. Dann habe ich die pure Wahrheit gesagt!«
Dagegen war schwer etwas einzuwenden. Ja, was das Mundwerk betraf, konnte mit Gigi nicht leicht einer fertig werden.
Leider kamen allerdings nur sehr selten Reisende, die das Amphitheater besichtigen wollten, und so musste Gigi häufig andere Berufe ergreifen, je nach Gelegenheit war er Parkwächter, Trauzeuge, Hundespazierenführer, Liebesbriefträger, Beerdigungsteilnehmer, Andenkenhändler, Katzenfutterverkäufer und noch vieles andere.