»Wußten Sie, daß er die Hilfe eines Detektivs anrief?«
»Eines Detektivs?« rief Mme. Renauld erstaunt.
»Ja, dieses Herrn - Monsieur Hercule Poirot.«
Poirot verbeugte sich. »Er traf heute auf die Berufung Ihres Mannes hier ein.« Und er nahm den von M. Renauld geschriebenen Brief aus der Tasche und reichte ihn der Dame. Sie las ihn mit offenbar echtem Staunen.
»Davon hatte ich keine Ahnung. Anscheinend war er sich der Gefahr voll bewußt.«
»Nun, Madame, möchte ich Sie bitten, völlig aufrichtig zu mir zu sein. Gibt es irgendein Ereignis im vergangenen Leben Ihres Gatten in Südamerika, das Licht in diese Mordaffäre bringen könnte?«
Mme. Renauld dachte nach und schüttelte endlich den Kopf. »Ich kann mich an nichts erinnern. Gewiß hatte mein Mann viele Feinde, Leute, die er auf irgendeine Weise überflügelt hatte, aber mir ist kein einzelner Fall gegenwärtig. Ich sage nicht, daß es keinen solchen gibt - nur bin ich mir dessen nicht bewußt.«
Enttäuscht fuhr sich der Untersuchungsrichter durch den Bart.
»Und können Sie die Zeit des Attentats angeben?«
»Ja, ich erinnere mich deutlich, daß die Uhr auf dem Kamin zwei schlug.« Sie wies auf eine Reiseuhr mit Achttagewerk, die in einem Lederetui auf dem Kamin stand.
Poirot erhob sich von seinem Sitz und untersuchte die Uhr sorgfältig, dann nickte er zufrieden.
»Und hier ist auch eine Armbanduhr«, rief Monsieur Bex, »die von den Attentätern zweifellos vom Toilettentisch heruntergerissen wurde. Das Glas ist zersplittert.«
Vorsichtig schob er die Glasscherben beiseite. Plötzlich spiegelte sich größte Verblüffung in seinem Gesicht.
»Mon Dieu!« rief er aus.
»Was gibt es?«
»Die Zeiger der Uhr stehen auf sieben Uhr!«
»Was?« rief der Untersuchungsrichter erstaunt.
Aber Poirot, flink wie immer, nahm dem erstaunten Kommissar die Uhr aus der Hand und hielt sie ans Ohr. Dann lächelte er.
»Das Glas ist zwar zerbrochen, aber die Uhr geht noch immer.«
Die Erklärung dieses Rätsels wurde mit einem Lächeln der Erleichterung zur Kenntnis genommen. Doch der Richter gab sich nicht zufrieden.
»Aber es kann doch jetzt nicht sieben Uhr sein?«
»Nein«, stimmte Poirot bei, »es ist wenige Minuten nach Fünf. Vielleicht geht die Uhr vor, Madame?«
Mme. Renauld runzelte erstaunt die Stirn. »Sie geht etwas vor«, gab sie zu. »Aber ich wußte nicht, daß der Unterschied so groß ist.«
Mit einer ungeduldigen Bewegung ließ der Richter dies Thema fallen und setzte sein Verhör fort.
»Madame, der Haupteingang wurde halb offen gefunden. Es scheint fast sicher, daß die Mörder auf diesem Wege hereinkamen, und zwar, ohne Gewalt anwenden zu müssen. Könnten Sie dafür eine Erklärung finden?«
»Möglicherweise ging mein Mann noch ein wenig spazieren und vergaß dann, als er hereinkam, die Tür zu versperren.«
»Konnte ihm so etwas passieren?«
»Sehr leicht. Mein Mann war einer der zerstreutesten Menschen.« Sie runzelte ein wenig die Brauen, als sie dies sagte, als ob dieser Charakterzug des Verstorbenen ihr öfters Anlaß zur Kränkung gegeben hätte.
»Dies ist ein Punkt, den wir, wie ich glaube, übergehen könnten«, bemerkte plötzlich der Kommissar. »Da die Männer darauf bestanden, daß Monsieur Renauld sich anzog, hat es den Anschein, als ob der Ort, zu dem sie ihn führten, der Ort, wo ,es' verborgen war, weit entfernt lag.«
Der Richter nickte. »Ja, weit, aber nicht zu weit, da er doch davon sprach, bald wieder zurück zu sein.«
»Wann geht denn der letzte Zug von Merlinville ab?« fragte Poirot.
»Um 11 Uhr 50 nach der einen Richtung, um 12 Uhr 17 nach der anderen, aber es ist wahrscheinlicher, daß ein Auto sie erwartete.«
»Natürlich«, stimmte Poirot zu und sah ein wenig niedergeschlagen aus.
»Das könnte allerdings ein Fingerzeig zu ihrer Verfolgung sein«, fuhr der Richter erleichtert fort. Ein Auto mit zwei fremden Insassen ist wahrscheinlich nicht unbemerkt geblieben. Das ist ein ausgezeichneter Anhaltspunkt, Monsieur Bex.«
Plötzlich wieder ernst werdend, wandte er sich an Madame Renauld: »Noch eine Frage. Ist Ihnen jemand namens ,Duveen' bekannt?« .
»Duveen?« erwiderte Madame Renauld nachdenklich. »Ich kann mich nicht erinnern ... «
»Kennen Sie jemanden mit dem Taufnamen Bella?« Während er sprach, behielt er Madame Renauld fest im Auge, aber sie schüttelte nur ganz unbefangen den Kopf. Er fuhr fort: »Ist Ihnen bekannt, daß Ihr Gatte gestern abend einen Besuch empfing?«
Nun sah er, wie ein leichtes Rot in ihre Wangen stieg, doch sie antwortete gefaßt: »Nein, wer war es?«
»Eine Dame.«
»Wirklich?«
Aber im Augenblick sagte der Richter nichts weiter. Es schien unwahrscheinlich, daß Madame Daubreuil irgendwie mit dem Verbrechen zu tun hatte, und er fürchtete, Madame Renauld mehr als nötig aufzuregen.
Er gab dem Kommissar ein Zeichen, das dieser mit einem Kopfnicken beantwortete. Dann erhob er sich, verließ den Raum und kehrte mit dem Glaskrug zurück, den wir in dem Schuppen in seiner Hand gesehen hatten. Er nahm den Dolch heraus.
»Madame«, sagte er sanft, »erkennen Sie dies?«
Sie stieß einen leisen Schrei aus.
»Ja, das ist mein kleiner Dolch.« Dann sah sie die befleckte Spitze und fuhr zurück, vor Entsetzen weiteten sich ihre Augen. »Ist dies - Blut?«
»Ja, Madame. Mit dieser Waffe wurde Ihr Gatte getötet.« Rasch brachte er den Dolch außer Sehweite.
»Wissen Sie ganz bestimmt, daß er vergangene Nacht auf Ihrem Toilettentisch lag?«
»O ja. Es war ein Geschenk meines Sohnes. Er diente während des Krieges bei den Lufttruppen. Er hatte sich für älter ausgegeben, als er war.« Mutterstolz sprach aus dem Tonfall ihrer Stimme. »Der Dolch wurde aus den Metallteilen eines Flugzeuges angefertigt, und mein Sohn schenkte ihn mir zum Andenken an den Krieg.«
»Ich verstehe, Madame. Das bringt uns aber auf eine andere Sache. Ihr Sohn - wo ist er jetzt? Es wäre nötig, ihn unverzüglich telegrafisch zu verständigen.«
»Jack? Er ist unterwegs nach Buenos Aires.«
»Was?«
»Ja. Mein Gatte telegrafierte ihm gestern. Er hatte ihn geschäftlich nach Paris gesandt, aber gestern entdeckte er, daß es nötig sei, ihn sofort nach Südamerika zu schicken. Gestern abend ging ein Schiff von Cherbourg nach Buenos Aires ab, und er drahtete ihm, sich darauf einzuschiffen.«
»Ist Ihnen bekannt, welcher Art das Geschäft in Buenos Aires war?«
»Nein, Monsieur, darüber ist mir nichts bekannt; aber Buenos Aires war nicht das Endziel meines Sohnes. Er sollte sich auf dem Landweg von dort nach Santiago begeben.«
Und gleichzeitig riefen nun der Richter und der Kommissar: »Santiago! Wieder Santiago!«
Jetzt trat Poirot zu Madame Renauld. Er hatte wie traumverloren am Fenster gestanden, und ich zweifle, ob er voll erfaßt hatte, was vorgegangen war. Er blieb vor ihr stehen und verneigte sich.
»Pardon, Madame, dürfte ich Ihre Handgelenke ansehen?«
Obwohl etwas erstaunt, streckte Madame Renauld sie ihm entgegen. Um jedes von ihnen zog sich ein blutigroter Streifen, wo die Stricke ins Fleisch geschnitten hatten. Als er sie untersuchte, schien es mir, als verschwände ein zeitweises erregtes Aufleuchten aus seinen Augen, das mir schon aufgefallen war.
»Das muß Ihnen wohl sehr weh tun«, sagte er, und wieder sah er nachdenklich drein.
Aber der Richter sprach erregt weiter. »Wir müssen uns sofort drahtlos mit dem jungen Monsieur Renauld in Verbindung setzen. Wir müssen erfahren, was er uns über seine Reise nach Santiago mitteilen kann.« Dann zögerte er. »Ich hoffte ihn näher zur Hand, um Ihnen Kummer ersparen zu können, Madame.« Er hielt inne.