»Wo?«
»Dort in dem Blumenbeet auf der rechten Seite. M. Bex sagt, daß es die Fußspuren des Gärtners seien. Sehen wir nach, ob es wahr ist. Schau, eben kommt er mit dem Schubkarren.«
Wirklich überquerte gerade ein älterer Mann mit einem Schubkarren voll Setzlingen die Auffahrt. Poirot rief ihn an, und er stellte seinen Karren hin und humpelte auf uns zu.
»Willst du einen seiner Stiefel verlangen, um ihn mit den Fußspuren zu vergleichen?« fragte ich gespannt. Mein Vertrauen zu Poirot lebte wieder auf. Wenn er behauptete, daß die Fußspuren in dem rechtsseitigen Beet wichtig seien, so waren sie vermutlich wichtig.
»Du errätst es«, sagte Poirot.
»Wird er das nicht sehr merkwürdig finden?«
»Er wird sich überhaupt keine Gedanken darüber machen.«
Mehr konnten wir nicht sprechen, denn der alte Mann trat eben zu uns.
»Wünschen Sie etwas von mir, Monsieur?«
»Ja, Sie sind wohl schon lange hier Gärtner?«
»Vierundzwanzig Jahre, Monsieur.«
»Und wie ist Ihr Name?«
»Auguste, Monsieur.«
»Ich bewunderte eben diese prachtvollen Geranien. Sind sie schon lange hier eingepflanzt?«
»Schon einige Zeit, Monsieur. Aber natürlich, wenn man die Beete immer schön in Ordnung haben will, muß man von Zeit zu Zeit verblühte Stöcke durch neue Pflanzen ersetzen und außerdem die welken Blüten sorgfältig abpflücken.«
»Setzten Sie nicht gestern einige neue Pflanzen ein? Diese in der Mitte hier und ebenso jene in dem anderen Beet?«
»Monsieur hat scharfe Augen. Es braucht immer ungefähr einen Tag, bis sie sich erholen. Ja, ich setzte gestern abend zehn frische Pflanzen in jedes Beet. Denn wie Monsieur sicher weiß, soll man keine Pflanzen setzen, solange die Sonne brennt.« Auguste war über Poirots Interesse entzückt und sehr geneigt, geschwätzig zu werden.
»Dies hier ist eine wundervolle Abart«, sagte Poirot, mit dem Finger zeigend, »könnte ich davon vielleicht einen Setzling bekommen?«
»Aber gewiß, Monsieur.« Der alte Mann stieg in das Beet und entnahm der von Poirot so bewunderten Pflanze mit großer Sorgfalt einen Steckling.
Poirot konnte des Dankes nicht genug tun, und Auguste entfernte sich mit seinem Schubkarren.
»Siehst du?« sagte Poirot lächelnd, als er sich über das Beet beugte, um die Vertiefungen zu prüfen, die des Gärtners genagelten Stiefel verursacht hatten. »Es ist ganz einfach.«
»Ich konnte mir nicht vorstellen -«
»Daß der Fuß in dem Schuh stecken würde? Du machst von deinen besonderen geistigen Fähigkeiten viel zuwenig Gebrauch. Nun, und die anderen Fußspuren?«
Ich betrachtete das Beet aufmerksam.
»Alle Fußspuren im Beet stammen von denselben Stiefeln«, sagte ich schließlich nach sorgsamster Überprüfung. »Glaubst du? Eh bien, du hast recht«, sagte Poirot.
Er schien vollkommen uninteressiert, als ob seine Gedanken ganz woanders weilten.
»Für jeden Fall«, bemerkte ich, »dürftest du jetzt einen Vogel weniger im Kopf haben!«
»Mon Dieu! Was für eine Sprache! Was meinst du damit?«
»Ich meinte, daß nun dein Interesse für diese Fußspuren erloschen sein dürfte.«
Jedoch zu meiner Verwunderung schüttelte Poirot den Kopf. »Nein, nein, mon ami, endlich bin ich auf der richtigen Fährte. Ich tappe doch im dunkeln, aber wie ich eben Monsieur Bex andeutete, sind diese Fußspuren das Wichtigste und Interessanteste des Falles! Der arme Giraud - es sollte mich nicht wundern, wenn er ihnen auch nicht die geringste Aufmerksamkeit schenken würde.«
In diesem Augenblick öffnete sich das Haupttor, und M. Hautet kam mit dem Kommissar die Stufen herab.
»Ah, Monsieur Poirot, wir wollten Sie eben aufsuchen«, sagte der Richter. »Es wird spät, doch ich möchte Madame Daubreuil noch einen Besuch machen. Zweifellos wird sie der Tod Monsieur Renaulds aus der Fassung gebracht haben, und wir haben vielleicht die Chance, durch sie einen Fingerzeig zu bekommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er der Frau, deren Liebe ihn in Banden hielt, verriet, was er seiner Gattin nicht anvertraute. Wir wissen ja, wo unsere Simsons schwach sind, nicht wahr?«
Ich bewunderte die bilderreiche Sprache M. Hautets. Mir schien, als ob der Untersuchungsrichter sich jetzt überaus in der Rolle gefiel, die ihm in diesem geheimnisvollen Drama zugefallen war.
»Kommt Monsieur Giraud nicht mit uns?« fragte Poirot.
»Monsieur Giraud hat uns deutlich zu verstehen gegeben, daß er es vorzieht, den Fall auf seine Weise zu führen«, sagte M. Hautet.
Es war nicht schwer zu bemerken, daß Girauds dreistes Auftreten den Untersuchungsrichter nicht zu seinen Gunsten beeinflußt hatte. Poirot ging mit dem Untersuchungsrichter, der Kommissar und ich folgten unmittelbar hinter ihnen.
»Es unterliegt keinem Zweifel, daß Francoises Erzählung im wesentlichen auf Wahrheit beruht«, bemerkte er vertraulich zu mir. »Ich informierte mich bei unserer Zentrale. Es scheint, daß Madame Daubreuil in den letzten sechs Wochen - das heißt seit der Ankunft Monsieur Renaulds in Merlinville -dreimal größere Summen in Noten auf ihr Bankkonto einzahlte. Alles zusammen ungefähr die Summe von zweimal hunderttausend Francs!«
»Du lieber Himmel!« sagte ich und rechnete schnell um, »das müßten ungefähr viertausend Pfund sein!«
»Genau. Ja, es ist nicht daran zu zweifeln, daß er sehr verliebt war. Jetzt handelt es sich darum, festzustellen, ob er ihr sein Geheimnis anvertraut hatte. Der Untersuchungsrichter glaubt es, aber ich teile seine Ansicht kaum.«
Während dieses Gespräches gingen wir den Weg hinunter bis zu jener Straßenbiegung, bei der unser Wagen am frühen Nachmittag gehalten hatte, und gleich darauf erkannten wir jenes kleine Haus, aus dem das schöne Mädchen herausgetreten war:Villa Marguerite, das Haus der geheimnisvollen Madame Daubreuil. -
»Sie lebt seit vielen Jahren hier«, sagte der Kommissar und deutete auf das Haus. »Sehr ruhig, sehr zurückgezogen. Sie scheint keine anderen Freunde oder Beziehungen zu haben als die Bekanntschaften, die sie in Merlinville anknüpfte. Nie erwähnt sie Vergangenes, nie ihren Gatten. Man weiß nicht einmal, ob er lebt oder tot ist.«
Mein Interesse wuchs, »Und - die Tochter?« warf ich ein.
»Ein wirklich schönes junges Mädchen - bescheiden, fromm, ganz wie es sich gehört. Man bedauert sie, denn, wenn ihr vielleicht auch nichts über die Vergangenheit ihrer Mutter bekannt ist, wird doch der Mann, der sie zur Frau begehrt, begreiflicherweise Erkundigungen einziehen, und dann -«
Der Kommissar zuckte die Achseln.
»Aber es ist doch nicht ihr Verschulden! « tief ich entrüstet.
»Nein. Aber was wollen Sie? Ein Mann ist eben genau, wo es sich um das Vorleben seiner Gattin handelt.«
Ich konnte darauf nichts mehr erwidern, da wir bei der Tür angelangt waren. M. Hautet läutete. Einige Minuten vergingen, dann hörten wir Schritte, und die Tür wurde geöffnet. Meine junge Göttin von heute nachmittag erschien auf der Schwelle. Als sie uns sah, wurde sie leichenblaß, und ihre Augen blickten angstvoll. Sie hatte Furcht!
»Mademoiselle Daubreuil«, sagte Hautet und lüftete den Hut, »wir bedauern unendlich, Sie stören zu müssen, aber die Pflicht zwingt uns dazu. Meine Empfehlungen Ihrer Frau Mutter, und wir bitten sie um eine kurze Unterredung.«
Einen Augenblick stand das Mädchen regungslos. Dann sagte sie leise: »Bitte, treten Sie ein.«
Sie verschwand in einem Zimmer links von der Halle, und wir hörten sie flüstern. Und dann ließ sich eine andere Stimme, von fast der gleichen Klangfarbe, aber mit etwas härterem Tonfall hören: »Aber selbstverständlich. Laß sie eintreten.«