Eine Minute später standen wir der geheimnisvollen Frau gegenüber. Sie war nicht annähernd so groß wie ihre Tochter, und die runden Linien ihrer Gestalt hatten die Grazie völliger Reife. Sie trug ihr Haar, das, im Gegensatz zu dem ihrer Tochter, dunkel war, nach Madonnenart in der Mitte gescheitelt. Ihre Augen, von den gesenkten Lidern halb verborgen, waren blau. In dem rundlichen Kinn befand sich ein Grübchen, und um die halbgeöffneten Lippen schien immer ein geheimnisvolles Lächeln zu schweben. Ihre Weiblichkeit schien stark unterstrichen, sie wirkte weich und verführerisch zugleich. Sie war sicher nicht mehr jung, aber sehr gut erhalten, und der Zauber, der von ihr ausging, war an kein Alter gebunden.
Wie sie vor uns stand, in ihrem schwarzen Kleid mit blütenweißem Kragen und Manschetten und ineinandergeschlungenen Händen, sah sie unglaublich rührend und hilflos aus. »Sie wollten mich sprechen, Monsieur?« fragte sie. »Ja, Madame.« M. Hautet räusperte sich. »Ich führe die Untersuchung über den Tod von Monsieur Renauld. Sie hörten davon, nehme ich an?«
Sie neigte den Kopf, doch sie sprach nicht. Auch ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert.
»Wir kamen, um zu fragen, ob Sie ... hm ... uns nicht einige Klarheit über die Begleitumstände geben könnten?«
»Ich?« Das Staunen in ihrer Stimme war vortrefflich.
»Ja, Madame. Vielleicht wäre es besser, wenn wir mit Ihnen allein sprechen könnten.« Er blickte auf die Tochter. Madame Daubreuil wandte sich ihr zu. »Marthe, Liebling ... « Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, Mama. Ich gehe nicht. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zweiundzwanzig. Ich gehe nicht.«
Madame Daubreuil wandte sich wieder »um Untersuchungsrichter. »Sie sehen, Monsieur.«
»Ich zöge es vor, nicht in Gegenwart von Mademoiselle Daubreuil sprechen zu müssen.«
»Wie meine Tochter schon bemerkte, ist sie kein Kind mehr.«
Unschlüssig zögerte der Richter einen Augenblick. »Wie Sie wünschen, Madame«, sagte er schließlich. »Wir haben Grund zur Annahme, daß Sie den Toten manchmal des Abends in seiner Villa zu besuchen pflegten. Ist das richtig?«
In die bleichen Wangen der Frau stieg jähe Röte, doch sie antwortete ruhig: »Ich gebe Ihnen kein Recht, mich derartiges zu fragen.«
»Madame, wir untersuchen einen Mord.«
»Nun, was macht das aus? Ich habe mit dem Mord nichts zu schaffen.«
»Madame, das haben wir nicht einen Augenblick lang angenommen. Aber Sie waren mit dem Toten gut bekannt. Sprach er niemals zu Ihnen von irgendeiner Gefahr, von der er sich bedroht wähnte?«
»Niemals.«
»Erwähnte er jemals sein Leben in Santiago und etwaige Feindschaften, die ihm dort erwachsen waren?« -
»Nein.«
»Sie können uns also in keiner Weise behilflich sein?«
»Ich fürchte, nein. Ich begreife wirklich nicht, weshalb Sie zu mir kommen. Kann seine Frau Ihnen nicht die Auskunft geben, die Sie brauchen?« In ihrer Stimme schwang leise Ironie.
»Madame Renauld sagte uns alles, was sie wußte.«
»Ah!« sagte Madame Daubreuil. »Ich wüßte gern -«
»Was wüßten Sie gern, Madame?«
»Nichts.«
Der Untersuchungsrichter blickte sie an. Er war sich dessen voll bewußt, daß er einen Zweikampf focht und daß er keinen geringen Gegner vor sich hatte.
»Sie bleiben bei Ihrer Behauptung, daß Monsieur Renauld Ihnen nichts anvertraute?«
»Weshalb erscheint es Ihnen wahrscheinlich, daß er mir etwas anvertraut habe?«
»Weil, Madame«, sagte M. Hautet mit berechneter Brutalität, »ein Mann seiner Geliebten Dinge sagt, die er nicht immer seiner Gattin anvertraut.«
»Ah!« Sie sprang auf. Ihre Augen funkelten. »Monsieur, Sie beschimpfen mich! Und noch dazu in Gegenwart meiner Tochter! Ich kann Ihnen nichts weiter sagen. Bitte, verlassen Sie mein Haus.«
Unzweifelhaft hatte Mme. Daubreuil ehrenvoll bestanden. Wir verließen die Villa Marguerite wie eine Rotte beschämter Schuljungen. Der Untersuchungsrichter hielt ärgerliche Selbstgespräche. Poirot schien in Gedanken versunken. Plötzlich fuhr er aus seinen Träumen empor und erkundigte sich bei M. Hautet, ob es in der Nähe ein gutes Hotel gebe.
»Es gibt ein kleines Hotel, das Hotel des Bains, unmittelbar vor der Stadt. Einige hundert Meter den Weg hinab. Es liegt sehr günstig für Ihre Forschungen. Dann sehen wir Sie also morgen früh, nehme ich an.«
»Ja, danke, Monsieur Hautet.«
Nach gegenseitigem Austausch von Höflichkeiten verließen wir die Gesellschaft. Poirot und ich gingen nach Merlinville, die anderen kehrten zur Villa Genevieve zurück.
»Der französische Polizeidienst ist ausgezeichnet organisiert«, sagte Poirot und blickte ihnen nach. »Die Informationen, die sie über jedermanns Leben, bis zu den alltäglichsten Einzelheiten besitzen, sind bewundernswert. Obwohl Monsieur Renauld nicht viel länger als seit sechs Wochen hier war, wußten sie über ihn, über seine Neigungen genau Bescheid, und es ist ihnen sogar möglich, über das Bankkonto von Madame Daubreuil Auskunft zu erteilen und über die Summen, die kürzlich darauf eingezahlt wurden! Aber was soll das bedeuten?« und er wandte sich um. Eine Gestalt lief hinter uns her. Marthe Daubreuil!
»Verzeihen Sie«, rief sie atemlos, als sie uns erreicht hatte. »Ich sollte das nicht tun, ich weiß es. Sie dürfen es meiner Mutter nicht erzählen. Aber ist es richtig, was die Leute sagen, daß Monsieur Renauld vor seinem Tode einen Detektiv herbeirief - und daß Sie dieser Detektiv sind?«
»Ja, Mademoiselle«, sagte Poirot liebenswürdig. »Das ist allerdings wahr. Aber wie erfuhren Sie es?«
»Francoise erzählte es unserer Amelie«, erklärte Marthe errötend.
Poirot verzog das Gesicht. »Verschwiegenheit ist wohl in so einer Angelegenheit ganz ausgeschlossen! Aber das macht nichts. Nun, Mademoiselle, was möchten Sie gern wissen?«
Das Mädchen zögerte. Es schien, als fürchte es zu sprechen.
Endlich fragte es fast flüsternd: »Hat - hat man irgendeinen Verdacht?«
Poirot sah sie durchdringend an. Dann antwortete er ausweichend: »Verdacht, Mademoiselle ... allerdings.«
»Ja, aber - handelt es sich um eine bestimmte Person?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Es schien, als habe die Frage das Mädchen erschreckt. Sogleich kamen mir die Worte ins Gedächtnis, die Poirot einige Stunden früher gesprochen hatte. »Das Mädchen mit den angstvollen Augen.«
»Monsieur Renauld war immer sehr gütig zu mir«, erwiderte sie endlich. »Es ist nur natürlich, daß ich mich dafür interessiere.«
»Ich verstehe«, sagte Poirot. »Nun, Mademoiselle, der Verdacht schwankt momentan zwischen zwei Personen.«
»Zwei?«
Ich hätte schwören mögen, daß Staunen und Erleichterung aus ihrer Stimme klangen.
»Ihre Namen sind unbekannt, doch es wird angenommen, daß es Chilenen aus Santiago sind. Und nun, Mademoiselle, sehen Sie, was es heißt, jung und schön zu sein! Ich habe Ihretwegen Berufsgeheimnisse verraten!«
Das Mädchen lachte leise und dankte ihm dann ein wenig betreten. »Ich muß nach Hause. Mama könnte mich vermissen.« Und sie machte kehrt und lief den Weg zurück, sie glich einer modernen Atalanta. Ich starrte ihr nach.
»Lieber Freund«, sagte Poirot in seiner leicht ironischen Art, »sollen wir hier die ganze Nacht wie angewurzelt stehen -nur weil du ein schönes junges Weib sahst und dir der Kopf davon wirbelt?«
»Aber sie ist doch wunderschön, Poirot. Und man muß es jedem verzeihen, wenn er durch sie den Kopf verliert.«
Poirot stöhnte. »Mon Dieu! Hast du ein empfindsames Herz!«
»Poirot«, sagte ich, »erinnerst du dich an den Fall Styles, wie-«
»Wie du in zwei reizende Frauen zugleich verliebt warst, von denen keine für dich taugte? Ja, ich erinnere mich.«
»Du tröstetest mich damals und sagtest, daß wir vielleicht eines Tages wieder gemeinsam pürschen würden und daß dann -«