»Kommen Sie schnell hinaus. Es war doch zuviel für Sie.«
»Wasser«, flüsterte sie. »Schnell, Wasser!«
Ich verließ sie und eilte ins Haus. Glücklicherweise begegnete ich keinem der Dienstmädchen und konnte unbemerkt ein Glas Wasser holen, dem ich einige Tropfen Brandy aus meiner Reiseflasche beimengte. Wenige Minuten später war ich wieder zurück. Das Mädchen saß noch, wie ich es verlassen hatte, aber einige Schluck Wasser mit Brandy hatten wunderbar belebende Wirkung.
»Schnell, schnell, führen Sie mich fort von hier!« bat sie schaudernd.
Ich stützte sie, geleitete sie ins Freie und stieß die Tür hinter mir zu. Dann atmete sie tief.
»Jetzt ist es mir besser. Oh, es war schrecklich! Weshalb ließen Sie mich hineingehen?«
Das war so echt weiblich, daß ich ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Insgeheim freute mich ihr Zusammenbruch. Er bewies, daß sie nicht ganz so gefühllos war, wie ich ursprünglich gedacht hatte. Schließlich war sie fast noch ein Kind, und die Neugierde kam wahrscheinlich von ihrer Unbesonnenheit.
»Wie Sie wissen, versuchte ich alles, um Sie davon abzuhalten«, sagte ich sanft.
»Ich glaube, Sie taten das wirklich. Und nun leben Sie wohl.«
Sie wandte mir den Rücken zu.
Ich folgte ihr hastig ein oder zwei Schritte.
»Hören Sie, so können Sie nicht fortgehen - so allein. Sie sind dessen noch nicht fähig. Ich bestehe darauf, Sie nach Merlinville zurückzubegleiten.«
»Unsinn. Ich fühle mich schon ganz wohl.«
»Und wenn Sie noch einmal ohnmächtig werden? Nein, ich gehe mit Ihnen.«
Aber dagegen wehrte sie sich energisch. Endlich setzte ich durch, daß ich sie bis in die Nähe von Merlinville begleiten durfte. Wir gingen den Weg zurück, den wir gekommen waren, am Grabe vorbei, und machten einen Umweg, um die Straße zu umgehen. Als wir die ersten verstreut liegenden Geschäftsläden erreichten, blieb sie stehen und streckte mir die Hand entgegen.
»Leben Sie wohl, und noch vielen Dank für die Begleitung.«
»Fühlen Sie sich wirklich wieder ganz wohl?«
»Vollkommen, danke schön. Ich hoffe, daß Ihnen keine Unannehmlichkeiten daraus erwachsen werden, daß Sie mir so gefällig waren ... «
Leichthin verwarf ich diesen Gedanken.
»Dann leben Sie wohl.«
»Auf Wiedersehen«, verbesserte ich. »Da Sie sich hier aufhalten, werden wir uns wieder treffen.«
Sie lächelte mir zu: »Sicher. Auf Wiedersehen also.«
»Einen Augenblick noch - und Ihre Adresse?«
»Oh, ich wohne im Hotel du Phare. Es ist ein kleiner, aber ganz guter Gasthof. Besuchen Sie mich morgen.«
»Ich werde so frei sein«, sagte ich, vielleicht eifriger als nötig.
Ich sah ihr nach, bis sie meinen Blicken entschwand, und kehrte dann zur Villa zurück. Es fiel mir ein, daß ich die Tür des Schuppens nicht versperrt hatte. Glücklicherweise hatte niemand mein Versehen bemerkt, und ich zog den Schlüssel ab, nachdem ich das Versäumte nachgeholt hatte, und gab ihn dem Gendarm zurück. Und als ich damit beschäftigt war, kam mir plötzlich m den Sinn, daß mir Cinderella zwar ihre Adresse gegeben hatte, daß ich aber noch immer ihren Namen nicht wußte.
9
Im Salon traf ich den Untersuchungsrichter dabei an, Auguste, den alten Gärtner, zu verhören. Poirot und der Kommissar begrüßten mich, dieser durch eine höfliche Verbeugung, jener durch ein Lächeln. Leise schlich ich zu einem Sessel. So unverdrossen und bis zum Äußersten genau M. Hautet sich auch ins Zeug legte, es gelang ihm doch nicht, irgend etwas von Belang zu entdecken.
Auguste gab zu, daß die Gartenhandschuhe ihm gehören. Er trug sie, wenn er eine bestimmte Art Primeln pflanzte, die manchen Menschen schädlich war. Er konnte nicht angeben, wann er sie zuletzt getragen habe. Keinesfalls habe er sie vermißt. Wo sie aufbewahrt werden? Manchmal hier, manchmal dort. Der Spaten war gewöhnlich in der kleinen Gerätehütte zu finden. War sie versperrt? Natürlich war sie versperrt. Wo befand sich der Schlüssel? Parbleu, selbstverständlich an der Tür. Es gebe dort nichts Wertvolles zu stehlen. Wer habe an Banditen oder Mörder gedacht? Zur Zeit von Madame la Vicomtesse pflegten solche Dinge nicht vorzukommen.
Als M. Hautet merken ließ, daß er mit ihm fertig sei, zog sich der alte Mann zurück, nicht ohne bis zuletzt gebrummt zu haben. Ich gedachte Poirots unerklärlicher Beharrlichkeit, als es sich um die Fußspuren in den Blumenbeeten handelte, und ich beobachtete Auguste daher genau, während er vernommen wurde. Entweder hatte er nichts mit dem Verbrechen zu schaffen, oder er war ein vollendeter Schauspieler. Plötzlich kam mir ein Gedanke.
»Pardon, Monsieur Hautet«, rief ich, »darf ich eine Frage stellen?«
»Aber gewiß, Monsieur.«
»Wo befinden sich Ihre Stiefel?« fragte ich den Alten.
»An meinen Füßen«, knurrte er. »Wo sonst?«
»Aber wenn Sie des Abends zu Bett gehen?«
»Unter dem Bett.«
»Und wer putzt sie?«
»Niemand. Wozu sollten sie geputzt werden? Gehe ich denn wie ein junger Mann auf dem Korso spazieren? Am Sonntag trage ich Sonntagsschuhe, aber sonst -« Er zuckte die Achseln.
Ich schüttelte entmutigt den Kopf.
»Ja, ja«, meinte der Untersuchungsrichter, »es geht nicht vorwärts. Zweifellos sind wir durch die ausständige Kabelantwort aus Santiago aufgehalten. Hat niemand Giraud gesehen? Der läßt aber wirklich viel an Höflichkeit zu wünschen übrig. Ich hätte nicht übel Lust, ihn holen zu lassen und -«
»Da werden Sie nicht weit zu schicken haben.«
Die ruhige Stimme überraschte uns. Giraud stand draußen und blickte durch das offene Fenster.
Mühelos sprang er in das Zimmer und trat an den Tisch.
»Da bin ich, und zu Ihrer Verfügung. Verzeihen Sie, daß ich nicht früher zur Stelle war.«
»O bitte, bitte!« sagte der Richter ein wenig betreten.
»Zwar bin ich nur Detektiv«, fuhr der andere fort, »und verstehe nichts von Verhören. Aber würde ich ein Verhör leiten, so geschähe es nicht bei offenen Fenstern. Ein Draußenstehender kann leicht alles hören, was drinnen vorgeht. Doch das macht nichts!«
M. Hautet stieg vor Ärger das Blut in die Wangen. Es schien, als würde es zu keiner großen Sympathie zwischen dem Untersuchungsrichter und dem Detektiv kommen, in deren Händen die Sache lag. Sie waren von Anfang an gegeneinander eingestellt. Vielleicht wäre es in jedem Fall so gewesen. M. Giraud hielt alle Untersuchungsrichter für Narren, und M. Hautet, der sich selbst so ernst nahm, konnte nicht umhin, die gleichgültige Art des Pariser Detektivs als schwere Beleidigung zu empfinden.
»Eh bien, Monsieur Giraud«, sagte er nun scharf, »Sie haben Ihre Zeit gewiß staunenswert ausgenützt! Sie bringen uns sicher die Namen der Mörder, nicht wahr? Und auch die genaue Angabe des Ortes, an dem sie sich befinden?«
Ohne die Ironie zu beachten, antwortete M. Giraud: »Ich weiß wenigstens, woher sie kamen.«
»Was?«
Giraud zog zwei kleine Gegenstände aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Es waren sehr primitive Dinge, ein Zigarettenstummel und ein unbenutztes Zündholz. Der Detektiv wandte sich an Poirot: »Was sehen Sie hier?«
Es lag wie Herausforderung in dem Ton, der mir das Blut in die Wangen trieb. Aber Poirot blieb unerschütterlich. Er zuckte die Achseln. »Das Ende einer Zigarette und ein Zündhölzchen.«
»Und was sagt Ihnen das?«
Poirot streckte die Hände aus.
»Es sagt mir - nichts.«
»Oh!« sagte Giraud zufrieden. »Sie haben diese Dinge nicht untersucht. Dies ist kein gangbares Streichholz -wenigstens nicht in diesem Lande. Aber in Südamerika ist es alltäglich. Glücklicherweise ist es unbenutzt. Sonst hätte ich es vielleicht nicht erkannt. Offenbar warf einer der Männer seine Zigarette fort und zündete sich eine zweite an, und bei der Gelegenheit dürfte ein Zündhölzchen aus der Schachtel gefallen sein.«