Mit weit geöffneten Augen lauschte meine Reisegefährtin. »Ist das aber interessant! Gerade für Verbrechen habe ich leidenschaftliches Interesse. Ich sehe mir alle Schauerdramen in den Kinos an. Und gibt es einen Mord, dann verschlinge ich die Zeitungen.«
»Entsinnen Sie sich noch des Falles Styles?« fragte ich. »Warten Sie, war das nicht jene alte Dame, die vergiftet wurde? Irgendwo unten in Essex?«
Ich nickte.
»Dies war Poirots erster großer Fall. Ohne ihn wäre der Mörder zweifellos straffrei ausgegangen. Das war ein höchst bewundernswertes Detektivstück.«
Das Thema machte mir warm, und ich ging alle Einzelheiten der Angelegenheit bis zu ihrer unerwartet sieghaften Lösung durch. Wie gebannt horchte das Mädchen. Und so vertieft waren wir in unser Gespräch, daß der Zug in Calais einlief, ehe wir uns dessen bewußt wurden, »Du lieber Gott!« rief meine Gefährtin. »Wo ist meine Puderquaste?«
Sie ging daran, ihr Gesicht auf das freigebigste zu bestauben und die Lippen mit dem Stift zu röten, während sie ihr Werk ganz unbefangen in einem kleinen Taschenspiegel besah.
»Ich möchte fragen«, - ich zögerte. »Ich muß Sie fragen -vielleicht ist es sehr keck von mir - aber weshalb tun Sie das alles?«
Das Mädchen unterbrach ihre Beschäftigung und starrte mich mit unverhohlenem Erstaunen an.
»Als ob Sie nicht hübsch genug wären, um darauf verzichten zu. können«, stotterte ich.
»Mein lieber - Junge! Das muß man doch tun. Alle Mädchen machen es. Glauben Sie, ich will aussehen, wie eine kleine Vogelscheuche aus der Provinz?« Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, lächelte zufrieden und verwahrte ihn mit dem Necessaire in ihrer Reisetasche. »So ist es besser. Ich gebe zu, es ist nicht leicht, den Schein zu wahren, aber ein Mädchen, das auf sich hält, darf keine Müdigkeit vorschützen.«
Auf diesen im wesentlichen moralisch gemeinten Gedankengang fehlte mir die Antwort. Es kommt auf den Standpunkt an.
Ich rief zwei Träger herbei, und wir stiegen aus. Meine Gefährtin reichte mir die Hand.
»Auf Wiedersehen, und ich will in Zukunft meine Zunge besser im Zaum halten.«
»Oh, aber Sie erlauben doch, daß ich auf dem Schiff nach Ihnen sehe?«
»Vielleicht bin ich nicht auf dem Schiff. Ich muß jetzt Umschau halten, ob meine Schwester nicht trotzdem irgendwie mitgekommen ist. Aber nichtsdestoweniger vielen Dank.«
»Wir werden uns doch hoffentlich wiedersehen? Ich -«■ Ich zögerte. »Ich möchte Ihre Schwester kennenlernen.«
Wir lachten beide.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Ich will es ihr bestellen. Aber ich denke nicht, daß wir einander wieder begegnen werden. Sie waren unterwegs nett zu mir, obwohl ich Ihnen keck entgegenkam. Aber was Ihr Gesicht zuerst ausdrückte, ist wahr. Ich bin nicht Ihresgleichen. Und das bringt Kummer - das weiß ich nur zu genau ... «
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Im Augenblick war all die leichtfertige Heiterkeit erloschen. Sie blickte böse -rachsüchtig ...
»Und nun leben Sie wohl«, schloß sie leichteren Tones..
»Wollen Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen nennen?« rief ich, als sie sich abwandte.
Sie blickte über die Schulter zurück. In jeder Wange kam ein Grübchen zum Vorschein. Sie glich einem entzückenden Bildnis von Grenze.
»Cinderella«, sagte sie lachend.
Aber in meinen kühnsten Träumen ahnte ich nicht, wann und wie ich Cinderella wiedersehen sollte.
2
Am nächsten Morgen erschien ich fünf Minuten vor neun Uhr zum Frühstück in unserem gemeinsamen Wohnzimmer. Mein Freund, Hercule Poirot, öffnete soeben, wie stets zu dieser Stunde, sein zweites Frühstücksei.
Er lachte mir zu, als ich eintrat.
»Hast du gut geschlafen? Hast du dich von der schrecklichen Überfahrt schon erholt? Es wundert mich, daß du auch heute pünktlich bist. Pardon, aber deine Schleife ist schlecht gebunden. Erlaube, daß ich sie in Ordnung bringe.«
Ich habe Hercule Poirot schon an anderer Stelle beschrieben. Ein ganz außergewöhnlich kleiner Mann! Fünfeinhalb Fuß hoch, den eiförmigen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, mit Augen, die in der Erregung grünlich schillerten, einem martialisch steifgedrehten Schnurrbart und mit unendlich würdevollem Aussehen! Seine äußere Erscheinung war peinlich, beinahe übertrieben elegant. Überhaupt war bei ihm jede Form von Ordnungsliebe zur Leidenschaft gesteigert. Sah er irgendwo etwas, was schief stand, lag irgendwo ein Körnchen Staub, gab es irgendwo die geringste Unordnung, so litt der kleine Mann Folterqualen, bis er sein Herz durch Abschaffung des Übels erleichtert hatte. »Ordnung« und »Methode« hießen seine Götter. Er verachtete gewissermaßen greifbare Beweise wie Fußstapfen und Zigarettenasche und behauptete, daß sie allein noch niemals einem Detektiv die Lösung seiner Auf gäbe ermöglicht hätten. Darauf schlug er sich mit lächerlichem Behagen auf den eiförmigen Kopf und bemerkte selbstgefällig: »Die wahre Arbeit muß von ihnen heraus getan werden. Die kleinen grauen Zellen - gedenke nur immer der kleinen grauen Zellen, mein Freund.«
Ich nahm Platz und bemerkte lässig, als Antwort auf Poirots Begrüßung, daß eine Stunde Überfahrt von Calais nach Dover wohl kaum das Beiwort »schrecklich« verdiene.
Poirot schwenkte seinen Eierlöffel als nachdrückliche Widerlegung meiner Bemerkung.
»Wenn jemand eine Stunde lang die fürchterlichsten Gemütsbewegungen und -empfindungen erleidet, dann hat er viele Stunden gelebt! Sagt nicht einer eurer englischen Dichter, daß die Zeit nicht nach Stunden, sondern nach Herzschlägen bemessen werden sollte?«
»Ich bilde mir ein, daß Browning dabei aber etwas viel Romantischeres vorschwebte als Seekrankheit.«
»Weil er ein Engländer, ein Inselbewohner war, dem der Ärmelkanal nichts bedeutete. Oh, ihr Engländer! Aber wir anderen! Stelle dir vor, eine Dame meiner Bekanntschaft floh zu Beginn des Krieges bis Ostende. Dort erlitt sie einen furchtbaren Nervenzusammenbruch. Weitere Fluchtmöglichkeiten gab es nicht, außer über das Wasser. Aber sie hatte Abscheu vor dem Meere! Was war da zu tun? Täglich rückte der Feind näher. Versetze dich in ihre Lage!«
»Und was tat sie?« fragte ich neugierig.
»Glücklicherweise war ihr Gatte ein praktischer Mensch. Er war auch sehr ruhig. Nervenkrisen rührten ihn nicht. Er hat sie ganz einfach mitgeschleppt. Natürlich war sie völlig niedergebrochen, als sie in England ankam, aber sie atmete noch.«
Poirot schüttelte ernst den Kopf. Ich legte mein Gesicht in angemessene Falten.
Plötzlich erstarrte er. Mit dramatischer Geste wies er auf den Toastständer.
»Aber das ist ja unerhört!« schrie er.
»Was gibt es?«
»Fällt dir dieses Stück Toast nicht auf?« Er riß das ihn beleidigende Stück aus dem Ständer und reichte es mir zur Begutachtung.
»Ist es viereckig? Nein. Ist es dreieckig? Auch nicht. Ist es vielleicht rund? Noch weniger. Hat es irgendeine dem Auge gefällige Form? Hat es überhaupt eine symmetrische Form? Nein.«
»Es wurde von einem Laib Landbrot heruntergeschnitten«, erklärte ich besänftigend.
Poirot warf mir einen vernichtenden Blick zu.
»Wie klug doch mein Freund Hastings ist!« rief er spöttisch. »Verstehst du nicht, daß ich mir solch ein Brot verbeten habe — so ein formloses Zufallsbrot, das kein Bäcker zu backen wagen sollte!«
Ich versuchte seine Gedanken abzulenken.
»Interessantes mit der Post gekommen?«
Poirot verneinte mit unzufriedener Miene.
»Ich sah meine Briefe noch nicht durch, aber heutzutage kommt nichts Interessantes mehr. Es gibt keine großen Verbrecher, keine Verbrecher mit Methode. Die Fälle, bei denen ich mich in der letzten Zeit betätigte, waren über alle Maßen banal. Wirklich, ich war gezwungen, verlorengegangene Schoßhunde eleganter Damen wiederzufinden. Der letzte halbwegs interessante Fall war jene verwickelte Affäre mit dem Yardly-Diamanten, und das ist -wie viele Monate mag das zurückliegen, lieber Freund?«