»Sehr richtig, sehr richtig«, sagte M. Hautet. »Vielleicht werden wir unsere Gedankengänge nach mancher Richtung umstellen müssen. Natürlich haben wir nach Santiago gekabelt und erwarten jeden Augenblick die Antwort. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dann alles klar und offen sein. Andererseits müßte doch, wenn Ihre Annahme auf Erpressung richtig ist, Madame Daubreuil in der Lage sein, uns wertvolle Aufschlüsse geben zu können.«
Hier warf Poirot ein: »Monsieur Stonor, Ist Masters, der englische Chauffeur, schon lange bei Monsieur Renauld?«
»Über ein Jahr.«
»Haben Sie eine Ahnung, ob er je in Südamerika war?«
»Ich weiß bestimmt, daß er nicht dort war. Ehe er in die Dienste M. Renaulds trat, war er viele Jahre bei einer Familie in Gloucestershire, die mir wohlbekannt ist.«
»Sie verbürgen sich also dafür, daß bei ihm jedes Verdachtsmoment ausscheidet?«
»Unbedingt.«
Poirot schien etwas verstimmt.
Unterdessen hatte der Richter Marchaud rufen lassen.
»Bestellen Sie Madame Renauld, ich ließe sie bitten, sie einige Augenblicke sprechen zu dürfen. Ich werde sie oben aufsuchen.«
Marchaud grüßte und verschwand.
Wir warteten einige Minuten, dann öffnete sich zu unserem Staunen die Tür, und Mme. Renauld betrat totenbleich, in tiefe Trauer gekleidet, das Zimmer.
M. Hautet rückte ihr einen Stuhl zurecht und erging sich in den nachdrücklichsten Beteuerungen, die sie ruhig entgegennahm. Stonor ergriff ihre Hand voll beredten Mitgefühls. Worte fehlten ihm. Mine. Renauld wandte sich M. Hautet zu: »Sie wollten mich etwas fragen?«
»Mit Ihrer Erlaubnis, Madame. Ich horte, Ihr Gatte sei von Geburt Franke-Kanadier gewesen. Können Sie uns irgend etwas über seine Jugend oder seine Erziehung mitteilen?«
Sie schüttelte den Kopf: »Mein Gatte war, was ihn selbst betraf, immer sehr zurückhaltend, Monsieur. Er kam aus Nordwest, soviel ich weiß; aber ich glaube, er hatte eine unglückliche Kindheit, da er niemals davon sprechen wollte. Wir lebten ausschließlich in der Gegenwart und der Zukunft.«
»Gab es irgendein Geheimnis in seiner Vergangenheit?«
Mme. Renauld lächelte kaum merklich und schüttelte den Kopf: »Sicher nichts Romantisches, Monsieur.«
M. Hautet lächelte nun auch: »Wahrhaftig, wir dürfen uns nicht erlauben, melodramatisch zu werden. Da wäre noch eine Sache -« Er zögerte.
Stonor platzte ungestüm dazwischen.
»Die Herren haben sich eine sehr seltsame Idee in den Kopf gesetzt, Madame. Sie bilden sich tatsächlich ein, daß Monsieur Renauld in Beziehungen zu einer Madame Daubreuil stand, die, , wie es heißt, in der Nähe wohnt.«
Mme. Renaulds Wangen färbten sich blutrot. Sie warf den Kopf zurück, kniff die Lippen zusammen, und ihr Gesicht zuckte. Stonor betrachtete sie erstaunt, doch M. Bex neigte sich vor und sagte liebenswürdig: »Es tut uns leid. Ihnen Kummer zu verursachen, Madame, aber haben Sie irgendeinen Grund zur Annahme, daß Madame Daubreuil die ... hm ... Geliebte Ihres Gatten war?«
Schluchzend verbarg Mme. Renauld ihr Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten wie im Krampf. Endlich hob sie das Haupt und sagte schwach: »Vielleicht war sie es.«
Nie in meinem Leben habe ich etwas gesehen, was der unerhörten Bestürzung gleichkam, die in Stonors Gesicht trat. Er war wie aus allen Wolken gefallen.
11
Ich kann nicht sagen, wie sich das Gespräch weiter entwickelt hätte, wenn nicht in diesem Augenblick die Tür aufgerissen und ein großer junger Mann in das Zimmer gestürzt wäre. Einen kurzen Augenblick hatte, ich das unheimliche Gefühl, daß der Tote wieder zum Leben erwacht sei. Dann bemerkte ich, daß das dunkle Haar noch nicht angegraut und er fast noch ein Knabe war.
Er stürzte auf Mme. Renauld zu. Mit solchem Ungestüm, daß er sich der Anwesenheit der anderen gar nicht bewußt wurde.
»Mutter!«
»Jack!« Mit einem Schrei schloß sie ihn in die Arme.
»Mein Liebling! Aber wie kommst du hierher? Du hättest doch vor zwei Tagen auf der ,Anzona' von Cherbourg abreisen sollen.«
Dann kam ihr plötzlich die Anwesenheit der anderen in Erinnerung, und sie wandte sich zu ihnen: - »Mein Sohn, meine Herren.«
»Aha!« sagte M. Hautet, als der junge Mann sieh nun verbeugte. »Sie fuhren also nicht mit der ,Anzona' ?«
»Nein, Monsieur. Die Abfahrt der ,Anzona' verzögerte sich eines Maschinendefektes wegen um vierundzwanzig Stunden. Statt vorgestern hätte ich erst gestern abend abreisen können, aber als ich mir zufällig ein Abendblatt kaufte, entdeckte ich einen Bericht über - über das grauenvolle Unglück, das uns betroffen hat -« Seine Stimme brach, und Tränen traten in seine Augen. »Mein armer Vater - mein armer, armer Vater.«
Mme. Renauld starrte ihn verstört an und wiederholte: »So bist du also nicht gefahren?« Und dann mit unsagbar müder Geste flüsterte sie halb zu sich selbst: »Schließlich macht es ja nichts - jetzt.«
»Nehmen Sie Platz, Monsieur Renauld«, sagte M. Hautet und deutete auf einen Stuhl. Ich hege tiefes Mitgefühl für Sie. Es muß ein furchtbarer Schlag sein, auf diese Weise die traurige Nachricht zu erfahren. Günstig ist jedoch, daß Sie an der Abreise verhindert wurden. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß es Ihnen möglich sein wird, uns gerade die Aufklärung zu geben, die wir brauchen, um das Geheimnis zu enträtseln.«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Monsieur. Fragen Sie, was Ihnen beliebt.«
»Um damit anzufangen: Ich erfahre, daß Sie die Reise auf Wunsch Ihres Vaters unternehmen sollten?«
»So ist es, Monsieur. Ich erhielt ein Telegramm, das mir befahl, nach Buenos Aires zu reisen und von dort nach Santiago.«
»Ah! Und der Zweck dieser Reise?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Wie?«
»Nein. Sehen Sie selbst, hier ist das Telegramm.«
Der Richter nahm es und las laut: »Abreise sofort Cherbourg, Einschiffung abends auf ,Anzona' nach Buenos Aires. Letzter Bestimmungsort Santiago. Weitere Anweisungen in Buenos Aires. Fahre unbedingt. Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit. Renauld.«
»Und darüber sind vorher keine Briefe gewechselt worden?«
Jack Renauld schüttelte den Kopf: »Dies ist das einzige, was ich weiß. Mir war natürlich nur bekannt, daß mein Vater, da er doch so lange dort gelebt hatte, viele geschäftliche Interessen in Südamerika besaß. Aber er hatte nie durchblicken lassen, daß er beabsichtige, mich hinüberzuschicken.«
»Sie sind natürlich viel in Südamerika gewesen, Monsieur Renauld?«
»Als Kind war ich dort. Aber ich wurde in England erzogen, wo ich zumeist auch meine Ferien verbrachte, so daß ich viel weniger von Südamerika weiß, als man annehmen könnte. Sehen Sie, ich war siebzehn Jahre alt, als der Krieg ausbrach.«
»Sie dienten bei der englischen Luftwaffe, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur.«
M. Hautet nickte und setzte sein Verhör innerhalb der bereits bekannten Richtlinien fort. Als Antwort erklärte Jack Renauld nachdrücklich, daß ihm von keiner wie immer gearteten Feindschaft bekannt sei, die sich sein Vater in Santiago oder anderen Orten in Südamerika zugezogen haben könnte, daß ihm in letzter Zeit keine Veränderung im Wesen seines Vaters aufgefallen sei und daß er niemals von seinem Vater eine Andeutung bezüglich eines Geheimnisses gehört habe. Er habe seine Mission in Südamerika als eine rein geschäftliche aufgefaßt.
Als M. Hautet einen Augenblick lang innehielt, fuhr die ruhige Stimme Girauds dazwischen: »Herr Richter, ich möchte in eigener Angelegenheit einige Fragen stellen.«
»Bitte, Monsieur Giraud, wie Sie wünschen«, war die kühle Antwort.
Giraud rückte mit seinem Stuhl näher an den Tisch heran: »Standen Sie gut mit Ihrem Vater, Monsieur Renauld?«