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»Ich habe keine Ahnung.«

M. Hautet seufzte: »Ein sehr dunkler Fall. Aber nichtsdestoweniger können wir, wie ich glaube, den Brief aus dem Spiele lassen. Was denken Sie, Monsieur Giraud? Er scheint kein Licht in die Sache zu bringen.«

»Natürlich nicht«, stimmte Giraud nachdrücklich bei.

»Und dabei«, seufzte der Untersuchungsrichter wieder, »sah der Fall am Anfang so schön und einfach aus.« Er fing einen Blick Mme. Renaulds auf und errötete verwirrt. »Ach ja«, hüstelte er und durchstöberte die Papiere auf dem Tisch. »Warten Sie, wo blieben wir stehen? Richtig, bei der Waffe. Ich fürchte, das wird Sie trüb stimmen, Monsieur Renauld. Ich hörte. Sie schenkten sie Ihrer Mutter. Sehr traurig - höchst bedauerlich ... «

Jack Renauld beugte sich vor. Sein Gesicht, das sich während der Durchsicht des Briefes heftig gerötet hatte, war nun totenbleich.

»Wollen Sie sagen - daß mein Vater durch ein Papiermesser, das aus einem Flugzeugteil angefertigt war -daß mein Vater damit ermordet wurde? Aber das ist ja ganz unmöglich? Mit so einem kleinen Ding!«

»Leider, Monsieur Renauld, ist es nur zu wahr! Eine ideale kleine Waffe, fürchte ich, dieses Papiermesser. Scharf und leicht zu handhaben.«

»Wo ist es? Kann ich es sehen? Steckt es etwa noch in -der Wunde?«

»O nein, es wurde entfernt. Sie wollen es sehen? Um ganz sicher zu sein? Das wäre vielleicht ganz gut, obwohl Ihre Frau Mutter es schon identifizierte. Doch - Monsieur Bex, dürfte ich Sie bemühen?«

»Selbstverständlich. Ich hole es gleich.«

»Wäre es nicht besser, Monsieur Renauld in den Schuppen zu führen?« empfahl Giraud ruhig. »Er wird wahrscheinlich den Wunsch haben, die Leiche seines Vaters zu sehen.«

Der Jüngling machte schaudernd eine ablehnende Handbewegung, und der Untersuchungsrichter, der immer geneigt war, Giraud zu widersprechen, erwiderte: »Aber nein -nicht jetzt. Monsieur Bex wird die Güte haben, den Dolch herzubringen.«

Der Kommissar verließ das Zimmer. Stonor ging auf Jack zu und drückte ihm die Hand. Poirot hatte sich erhoben und brachte einige Kerzenhalter in Ordnung, die kaum merklich schief standen, was sein ordnungsliebendes Auge sofort bemerkt hatte, per Richter las nochmals den geheimnisvollen Liebesbrief und klammerte sich verzweifelt an seine erste Theorie: Eifersucht und einen Dolchstoß in den Rücken.

Da wurde plötzlich die Tür aufgerissen und der Kommissar stürzte herein.

»Herr Untersuchungsrichter! Herr Untersuchungsrichter!«

»Aber ja, was gibt es denn?«

»Der Dolch! Er ist fort!«

»Was - fort?«

»Verschwunden! Weg! Der Glaskrug, in dem er aufbewahrt war, ist leer!«

»Was?« rief ich. »Unmöglich. Ich sah ihn doch noch heute früh -« Die Worte erstarben mir auf der Zunge.

Aber die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung war auf mich gelenkt.

»Was sagen Sie da?« schrie der Kommissar. »Heute früh?«

»Ich sah ihn heute früh noch dort«, sagte ich leise. »Ungefähr vor eineinhalb Stunden, um ganz genau zu sein.«

»So gingen Sie in den Schuppen? Woher nahmen Sie den Schlüssel?«

»Ich verlangte ihn von dem Gendarm.«

»Und Sie gingen hinein? Weshalb?«

Ich zögerte, aber schließlich entschloß ich mich, reinen Wein einzuschenken, weil es das einzig Richtige war.

»Monsieur Hautet«, sagte ich, »ich habe einen schweren Fehler begangen, für den ich Ihre Nachsicht erbitte.«

»Weiter, Monsieur.«

»Die Sache verhält sich so«, sagte ich und wünschte, ich wäre weit fort, »ich traf eine junge Dame, die ich kenne. Sie bat mich, alles sehen zu dürfen, was zu sehen war, und ich -kurz, ich holte den Schlüssel und zeigte ihr den Leichnam.«

»Ah!« rief der Richter empört aus. »Da haben Sie einen groben Fehler begangen, Captain Hastings. Außerdem ist es vollkommen unstatthaft. Sie hätten sich diese Unkorrektheit nicht erlauben dürfen.«

»Das weiß ich«, gab ich zu. »Keine Rüge ist streng genug, Monsieur.«

»Sie forderten doch die Dame nicht auf, hierherzukommen?«

»Gewiß nicht. Ich traf sie ganz zufällig. Es ist eine Engländerin, die sich augenblicklich gerade in Merlinville aufhält, was ich aber bis zu unserer zufälligen Begegnung nicht wußte.«

»Gut, gut«, sagte der Richter besänftigt. »Es war äußerst ungehörig, aber zweifellos ist die Dame jung und schön. Was es doch ausmacht, jung zu sein!« Und er seufzte gefühlvoll.

Jedoch der weniger gefühlvoll und praktischer veranlagte Kommissar griff die Erzählung auf: »Aber versperrten Sie die Tür, als Sie weggingen?«

»Das ist es ja«, sagte ich langsam. »Deshalb mache ich mir ja so schwere Vorwürfe. Meine Bekannte geriet über den Anblick außer Fassung. Sie fiel beinahe in Ohnmacht. Ich holte ihr etwas Brandy und Wasser und bestand darauf, sie bis zur Stadt zurückzubegleiten. In meiner Aufregung vergaß ich, die Tür zu versperren. Ich holte das erst nach, als ich später zur Villa zurückkehrte.«

»Daher war wenigstens zwanzig Minuten lang -« sagte der Kommissar langsam und hielt inne.

»So ist es«, sagte ich.

»Zwanzig Minuten .,.«, überlegte der Kommissar.

»Es ist bedauerlich«, sagte M. Hautet und setzte wieder eine strenge Miene auf. »Ein noch nie dagewesener Fall.«

Plötzlich ließ sich eine andere Stimme vernehmen.

»Sie finden es bedauerlich?« fragte Giraud.

»Gewiß finde ich es.«

»Ich finde es ausgezeichnet«, sagte der andere undurchdringlich.

Der unverhoffte Bundesgenosse verwirrte mich.

»Ausgezeichnet, Monsieur Giraud?« fragte der Richter und sah ihn erstaunt von der Seite an.

»Ja.«

»Und warum?«

»Weil wir jetzt wissen, daß der Mörder oder einer seiner Komplicen sich noch vor einer Stunde in der Nähe der Villa aufhielt. Es wäre zu verwundern, wenn er nach diesem Beweis nicht binnen kurzem in unserer Gewalt wäre.« Seine Stimme hatte einen drohenden Klang. Er fuhr fort: »Er wagte viel, um in den Besitz des Dolches zu gelangen. Vielleicht befürchtete er, daß Fingerabdrücke darauf gefunden werden könnten.«

Jetzt wandte sich Poirot an Bex: »Sie sagten, es seien keine auf dem Dolch gewesen?«

»Vielleicht war er dessen nicht ganz sicher«, warf Giraud ein.

Poirot warf mir einen Blick zu und sagte: »Sie irren sich, Monsieur Giraud. Der Mörder trug Handschuhe. Also ... «

»Ich sage nicht, daß es der Mörder selber war. Vielleicht war es ein Komplice, der diese Tatsache nicht kannte.«

Der Schreiber des Untersuchungsrichters raffte die Papiere zusammen, die auf dem Tisch lagen.

Wir waren recht gespannt, was nun folgen würde.

M. Hautet wandte sich zu uns: »Unsere Arbeit hier ist beendet. Monsieur Renauld, wollen Sie bitte zuhören, während wir Ihnen Ihre Aussage vorlesen. Ich habe absichtlich alle Vorgänge so ungezwungen wie möglich wiedergegeben. Man nennt meine Arbeitsmethode originell, aber ich behaupte, daß Originalität viel für sich hat. Der Fall liegt nun in den bewährten Händen Monsieur Girauds. Er wird sich gewiß dabei auszeichnen. Ich wundere mich wirklich, daß er die

Mörder noch nicht faßte! Madame, seien Sie nochmals meines tiefsten Mitgefühls versichert. Guten Tag, Messieurs.«

Und er entfernte sich mit seinem Schreiber.

Poirot zog seine unförmige Uhr aus der Tasche und sah nach der Zeit. »Gehen wir ins Hotel zum Lunch, mein Freund«, sagte er. »Und du erzählst mir dann in Ruhe deine Unbesonnenheit von heute morgen. Niemand beachtet uns. Wir brauchen uns nicht zu verabschieden.«

Leise gingen wir aus dem Zimmer. Eben war der Untersuchungsrichter in seinem Wagen fortgefahren.

Ich war im Begriff, die Stufen hinabzusteigen, als Poirots Stimme mir Einhalt gebot: »Einen kleinen Augenblick, mein Freund.«

Gewandt zog er ein Metermaß aus der Tasche und machte sich bedächtig daran, den Mantel, der in der Halle hing, vom Kragen bis zum Saum zu messen. Ich hatte ihn früher dort nicht hängen sehen und vermutete, daß er entweder Mr. Stonor oder Jack Renauld gehören müsse.