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Doch versuchte ich noch einen letzten Einwand: »Und das Zündholz und das Zigarettenende, die neben dem Leichnam gefunden wurden?« Was ist's mit diesen?«

Poirot lächelte überlegen: »Hingelegt! Mit Bedacht hingelegt, für Giraud und jemand seinesgleichen! Oh, er ist tüchtig, Giraud, er versteht sein Handwerk! Fast wie ein Spürhund! Und dann kommt er so selbstzufrieden daher. Stundenlang kroch er auf dem Bauch herum. ,Seht, was ich fand!' sagte er. Und dann zu mir: ,Was sehen Sie hier?' Und ich antwortete ihm voll tiefster, ehrlichster Überzeugung: ,Nichts!' Und Giraud, der große Giraud lacht, er denkt sich: ,Oh, ist das ein Dummkopf, dieser Alte!' Aber wir werden ja sehen ... «

Doch meine Gedanken kehrten zu den wichtigsten Tatsachen zurück: »Und alle Erzählungen von jenen maskierten Männern-?«

»Sind falsch.«

»Was geschah nun wirklich?«

Poirot zuckte die Achseln.

»Ein Mensch könnte uns das sagen - Madame Renauld. Aber sie will nicht sprechen. Weder Drohungen noch Bitten werden das erreichen. Eine bedeutende Frau, Hastings. Gleich als ich sie sah, merkte ich, daß ich eine Frau von ungewöhnlicher Charakterstärke vor mir habe. Zuerst, wie ich dir schon sagte, neigte ich zu der Ansicht, daß sie an dem Verbrechen beteiligt sei. Später änderte ich meine Meinung.«

»Was veranlaßte dich dazu?«

»Ihr unvermittelter und echter Schmerzensausbruch, als sie ihres Mannes Leichnam sah. Ich könnte schwören, die Qual in diesem Schrei war nicht gemacht.«

»Ja«, sagte ich nachdenklich, »das war wohl unverkennbar.«

»Entschuldige, lieber Freund - nichts ist unverkennbar. Nimm eine große Schauspielerin; erschüttert es dich nicht, wenn sie Kummer mimt, und hast du nicht den Eindruck des Wirklichen? Nein, wie tief auch meine Ergriffenheit und - nein Mitempfinden waren, es bedurfte noch anderer Beweise, um mich zufriedenzugeben. Der große Verbrecher ist oft ein guter Schauspieler. In diesem Fall beruht meine Gewißheit nicht auf meinem eigenen Eindruck, sondern auf der unleugbaren Tatsache, daß Madame Renauld wirklich die Besinnung verlor.

Ich zog ihre Augenlider hoch und fühlte ihren Puls. Da gab es keine Täuschung - die Ohnmacht war echt. Deshalb war ich überzeugt, daß ihr Schmerz nicht gemacht war. Außerdem eine nicht uninteressante kleine Einzelheit: es war durchaus nicht nötig, daß Madame Renauld grenzenlosen Kummer zeigte. Sie hatte den Tod ihres Mannes bereits erfahren, und es bestand für sie keine Notwendigkeit, noch einmal beim Anblick der Leiche einen zweiten, ebenso heftigen Schmerzensausbruch vorzutäuschen. Nein, Madame Renauld war nicht die Mörderin ihres Gatten. Aber weshalb log sie? Sie log, als es sich um die Armbanduhr handelte, und log, als die Rede auf die maskierten Männer kam — sie log auch noch in einer dritten Angelegenheit. Sag' mir, Hastings, wie erklärst du dir die offene Tür?«

»Nun«, meinte ich verlegen, »ich vermute, daß es sich um ein Versehen handelt. Man hatte vergessen, sie zu schließen.«

»Das ist Girauds Erklärung. Sie genügt mir nicht. Hinter der offenen Tür steckt etwas, was ich bis jetzt noch nicht ergründen konnte.«

»Ich habe eine Idee«, rief ich plötzlich.

»Ausgezeichnet! Laß hören.«

»Paß auf. Wir stimmen überein, daß die Erzählung Madame Renaulds falsch ist. Könnte es nicht sein, daß Monsieur Renauld infolge einer Verabredung - vielleicht mit dem Mörder - aus dem Hause ging und daß er die Tür für seine Heimkehr offenließ? Aber er kehrte nicht heim, und am nächsten Morgen wurde er erstochen aufgefunden.«

»Eine bewundernswerte Theorie, Hastings, bis auf zwei Tatsachen, die du charakteristischerweise übersehen hast. Erstens, wer band und knebelte Madame Renauld? Und weshalb, um Himmels willen, wären sie ins Haus zurückgekehrt, um dies zu tun? Und zweitens gibt es keinen Mann auf der ganzen Welt, der nur mit Unterwäsche und Mantel bekleidet zu einem Stelldichein ginge. Es mag Augenblicke geben, in denen ein Mann nur Pyjama und Mantel trägt - aber das? ... niemals!«

»Das ist richtig«, sagte ich kleinlaut.

»Nein«, fuhr Poirot fort, »wir müssen eine Lösung für das Geheimnis der offenen Tür anderswo suchen. Einer Sache bin ich aber ganz gewiß - daß sie das Haus nicht durch die Tür verließen. Sie verschwanden durch das Fenster.«

»Was?«

»Unbedingt.«

»Aber es waren doch keine Fußspuren im Blumenbeet?« -»Nein - und es müßten welche dort gewesen sein, Hastings. Der Gärtner Auguste bepflanzte am vorhergehenden Nachmittag beide Beete, wie du ihn selbst erzählen hörtest. In dem einen nun gibt es zahlreiche Abdrücke seiner benagelten Stiefel - in dem anderen keine! Siehst du? Jemand kam des Wegs, jemand, der dann die Oberfläche des Beetes mit dem Rechen glättete, um seine Fußspuren zu verwischen.«

»Wo nahmen sie den Rechen her?«

»Wo sie den Spaten und die Gartenhandschuhe hernahmen«, erwiderte Poirot ungeduldig. »Da gab es doch keine Schwierigkeit.«

»Was veranlaßt dich anzunehmen, daß sie diesen Weg wählten? Es scheint doch viel einleuchtender, daß sie durch das Fenster kamen und durch die Tür verschwanden?«

»Natürlich ist auch das möglich. Doch vermute ich sehr, daß sie sich durch das Fenster entfernten.«

»Ich glaube, du hast unrecht.«

»Vielleicht, mon ami.«

Ich sann nach und überdachte die neuen Möglichkeiten, die Poirots Folgerungen mir eröffnet hatten. Ich erinnerte mich seiner geheimnisvollen Anspielungen auf das Blumenbeet und die Armbanduhr. Seine Bemerkungen schienen im Augenblick so belanglos, und jetzt erst erkannte ich ihre Bedeutung. Aus wenigen geringfügigen Vorfällen hatte er viel von dem Dunkel enthüllt, das den Fall umgab. Nachträglich bewunderte ich meinen Freund.

Und als hätte er meine Gedanken gelesen, nickte er weise dazu: »System«, verstehst du! Nur System! Ordne die Tatsachen. Ordne deine Gedanken. Und wenn irgend etwas nicht stimmt - verwirf es nicht, sondern betrachte es eingehend. Wenn dir seine Wichtigkeit auch nicht klar ist, zu bedeuten hat es etwas.«

»Wenn wir inzwischen«, sagte ich nachdenklich, »mit unserem Wissen auch etwas weitergekommen sind, gelang es uns doch nicht, herauszubekommen, wer Monsieur Renaulds Mörder ist.«

»Nein«, sagte Poirot heiter. »Tatsächlich sind wir weiter davon entfernt als je.«

Diese Tatsache schien ihn so außerordentlich zu befriedigen, daß ich ihn verwundert anschaute. Er fing meinen Blick auf und lächelte. »Aber ja, es ist besser so. Vorher bestand nur die Frage, wie und durch wessen Hände er den Tod gefunden habe. Nun nichts mehr von alledem. Wir tappen im dunklen. Hundert widersprechende Einzelheiten verwirren und bedrängen uns - das ist gut. Das ist ausgezeichnet! Aus dem Chaos entsteht Ordnung. Aber wenn du gleich zum Beginn Ordnung findest - eh bien, sei auf der Hut! Dann ist es - wie soll ich sagen - gefehlt! Der große Verbrecher ist unkompliziert - aber die wenigsten Verbrecher sind groß! Bei den Bemühungen, ihre Spuren zu verwischen, verraten sie sich meistens selbst. Oh, mon ami, ich wünschte, eines Tages einem wirklich großen Verbrecher zu begegnen - einem, der sein Verbrechen verübt und dann - nichts tut! Sogar mir, Hercule Poirot, könnte es dann geschehen, daß er mir entschlüpfte.«

Aber ich folgte seinen Worten nicht. Ein Licht ging mir plötzlich auf: »Poirot! Madame Renauld! Nun weiß ich es. Sie scheint jemanden zu decken.«

Aus der Ruhe, mit der Poirot meine Bemerkung aufnahm, konnte ich ersehen, daß ihm dieser Gedanke nicht fremd war.

»Ja«, sagte er nachdenklich. »Sie schützt oder verbirgt jemanden. Eines von beiden.«