Verzweifelt schüttelte er den Kopf, und ich lachte laut auf.
»Kopf hoch, Poirot, das Glück ist wandelbar. Öffne deine Briefe. Wer kann wissen, ob nicht vielleicht eben jetzt ein bedeutender Fall am Horizont erscheint.«
Lächelnd ergriff Poirot das hübsche, kleine Papiermesser, mit dem er seine Briefe zu öffnen pflegte, und durchschnitt den oberen Rand mehrerer Briefumschläge, die neben seinem Teller lagen.
»Eine Rechnung. Aha! Hier ist eine Nachricht von Japp.«
»Ja?« Ich spitzte die Ohren. Der Polizeiinspektor von Scotland Yard hatte uns schon oft interessante Fälle zugetragen.
»Er dankt mir nur auf seine Art für den kleinen Fingerzeig, den ich ihm in der Angelegenheit Aberystwyth gab, und der ihn auf die richtige Spur wies. Ich bin heilfroh, daß ich ihm diesen Dienst erweisen konnte.«
»Wie dankt er dir?« fragte ich neugierig, denn ich kannte Japp. »Er ist so gütig, mir zu sagen, daß ich für mein Alter erstaunlich tüchtig und daß es ihm ein Vergnügen sei, mir Gelegenheit zur Betätigung bieten zu können.«
Das war so typisch für Japp, daß ich ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Gelassen las Poirot seine Briefe weiter.
»Eine Anregung zu einer Vorlesung, die ich unseren jungen Berufskollegen halten soll. Die Gräfin von Fanfanock bittet um meinen Besuch, zweifellos wieder ein Schoßhund! Und nun der letzte. Ah!«
Schnell blickte ich auf, da mir der veränderte Tonfall auffiel. Poirot las aufmerksam. Dann reichte er mir das Blatt. »Das ist einmal etwas anderes, mein Freund. Lies selbst.« Der Brief war mit kühner, charakteristischer Schrift auf fremdländischem Briefpapier geschrieben: »Villa Genevieve, Merlinville-sur-mer, Frankreich.
Werter Herr!
Ich bin genötigt, die Dienste eines Detektivs in Anspruch zu nehmen und möchte aus Gründen, die ich Ihnen später erklären werde, mich nicht an die offizielle Polizei wenden. Ich hörte von verschiedenen Seiten von Ihnen, und alle Berichte stimmen darin überein, daß Sie nicht nur ein Mann von ausgesprochener Begabung, sondern auch diskret und verschwiegen sind. Ich möchte der Post keine Einzelheiten anvertrauen, aber ich bin in einer Lage, die mich täglich um mein Leben zittern läßt. Ich bin davon überzeugt, daß mir unmittelbar Gefahr droht, und bitte Sie daher, keine Zeit zu verlieren und sofort nach Frankreich herüberzukommen. Wenn Sie mir die Stunde Ihrer Ankunft drahten, schicke ich Ihnen einen Wagen nach Calais. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie alles aufgäben, was Sie zur Zeit beschäftigt, und sich nur meinen Interessen widmen wollten. Ich will für jeden Ihnen daraus erwachsenden Schaden die Verantwortung tragen. Wahrscheinlich werde ich Ihre Dienste beträchtlich lange in Anspruch nehmen, und es kann sich für Sie die Notwendigkeit ergeben, nach Santiago fahren zu müssen, wo ich viele Jahre meines Lebens verbracht habe.
Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie mir Ihre Bedingungen mitteilen wollten.
Indem ich Ihnen nochmals versichere, daß die. Angelegenheit von größter Dringlichkeit ist, bin ich Ihr ergebener
P. T. Renauld.«
Unterhalb der Unterschrift befand sich noch eine hastig hingeworfene, beinahe unleserliche Zeile: »Um Gottes Barmherzigkeit willen, kommen Sie!«
Ich gab Poirot den Brief zurück, und meine Pulse schlugen schneller.
»Endlich«, sagte ich, »da ist etwas ganz Außergewöhnliches.«
»Ja, wirklich«, sagte Poirot nachdenklich.
»Du fährst doch«, fuhr ich fort.
Poirot nickte Er war in tiefes Nachdenken versunken. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben und blickte nach der Uhr. Sein Gesicht war ernst geworden.
»Lieber Freund, da ist keine Zeit zu verlieren. Der Continental-Expreß geht um elf Uhr von Victoria Station ab. Rege dich nicht auf. Wir haben reichlich Zeit. Wir können uns zehn Minuten gönnen, um es durchzusprechen. Du begleitest mich doch, nicht wahr?«
»Ja, aber -«
»Du sagtest mir doch selbst, daß dein Chef dich in den nächsten Wochen nicht benötigen werde.«
»Ja, das ist richtig. Aber Monsieur Renauld deutet doch ausdrücklich an, daß seine Angelegenheit streng privat sei.«
»Ta - ta - ta. Überlasse das mir. Übrigens glaube ich den Namen zu kennen.«
»Es gibt einen bekannten südamerikanischen Multimillionär Renauld. Ich weiß nicht, ob es derselbe ist.«
»Aber zweifellos. Das erklärt die Erwähnung von Santiago. Santiago liegt in Chile und Chile in Südamerika! Ah, es geht ja herrlich vorwärts!«
»Herrgott, Poirot«, sagte ich in steigender Erregung, »ich ahne - Reichtum. Wenn wir Erfolg haben, machen wir unser Glück!«
»Sei nicht zu zuversichtlich, lieber Freund. Ein reicher Mann trennt sich nicht so leicht von seinem Geld. Ich sah einmal, wie ein bekannter Millionär einen vollbesetzten Tramwagen räumen ließ, eines halben Pennys wegen, der zu Boden gefallen war.«
Ich gab zu, davon gehört zu haben.
»Jedenfalls«, fuhr Poirot fort, »lockt mich nicht das Geld. Gewiß ist es angenehm, bei unseren Forschungen in jeder Hinsicht Vollmacht zu haben; man ist wenigstens sicher, die Zeit nicht umsonst zu vergeuden, aber das Problem selbst erweckt mein Interesse. Hast du das Postskriptum bemerkt? Was fiel dir daran auf?«
Ich überlegte.
»Deutlich erkennbar hatte er sich fest in der Hand, während er den Brief schrieb, aber am Schluß verlor er die Selbstbeherrschung und kritzelte, einer plötzlichen Eingebung folgend, diese verzweifelten Worte.«
Aber energisch schüttelte mein Freund den Kopf.
»Du irrst. Siehst du nicht, daß die Tinte der Unterschrift fast schwarz, das Postskriptum aber ganz blaß ist?«
»Na, und?« fragte ich erstaunt.
»Aber mein lieber Freund, strenge deine kleinen grauen Zellen doch ein wenig an! Ist es nicht klar? Monsieur Renauld schrieb seinen Brief. Ohne ihn zu löschen, las er ihn noch einmal aufmerksam durch. Dann, mit Bedacht, nicht impulsiv, fügte er jene letzten Worte hinzu und trocknete dann das Blatt.«
»Aber weshalb?«
»Parbleu! Damit es auf mich den Eindruck mache, den es auf dich gemacht hat.«
»Welchen?«
»Aber, aber - damit ich um so sicherer komme. Er überlas den Brief und war unzufrieden. Er war nicht dringlich genug!«
Er hielt inne, in seinen Augen glomm der grüne Funke auf, der immer innere Erregung verriet, und leise fügte er hinzu: »Und so, mon ami, da das Postskriptum nicht im Impuls, sondern nüchtern und kaltblütig hinzugefügt wurde, scheint die Dringlichkeit sehr groß zu sein, und wir müssen so schnell wie möglich seinem Rufe Folge leisten.«
»Merlinville«, sagte ich gedankenvoll vor mich hin. »Ich glaube, ich kenne diesen Namen.«
Poirot nickte.
»Es ist ein ganz kleiner, aber eleganter Ort! Liegt auf dem Wege zwischen Boulogne und Calais. Kommt jetzt rasch in Mode. Reiche, ruhebedürftige Engländer bringen ihn in die Höhe. Ich vermute. Renauld hat ein Haus in England?«
»Ja, in Rutland Gate, soweit ich mich entsinne. Er hat auch irgendwo in Hertfordshire einen großen Besitz, aber ich weiß wirklich wenig über ihn selbst, er lebt nicht sehr gesellig. Ich glaube, daß er in der City umfangreiche Geschäfte mit Südamerika abwickelt und den größten Teil seines Lebens draußen in Chile und Argentinien verbracht hat.«
»Nun, alles Nähere werden wir ja von dem Manne selbst erfahren. Also packen! Eine kleine Reisetasche für jeden von uns, und dann ein Taxi nach Victoria Station.«
»Und die Gräfin?« fragte ich lachend.