Was Giraud wirklich dachte, bleibt dahingestellt, er fand sich jedoch in die Situation, ohne mit der Wimper zu zucken. Ruhig antwortete er: »Gewiß bin ich Ihrer Ansicht.«
Wieder wurden Rufe des Staunens und der Neugierde laut. »Aber was für ein Einfall!« rief M. Hautet. »Einen Mann noch nach seinem Tode zu erstechen! Ganz unerhört! Vielleicht aus unstillbarem Haß.«
»Nein«, sagte Poirot. »Ich möchte annehmen, daß es vollkommen kaltblütig geschah - um einen Eindruck zu erwecken.«
»Welchen Eindruck?«
»Den Eindruck, den es beinahe erweckte«, erwiderte Poirot rätselhaft.
M. Bex dachte nach.
»Wie wurde dieser Mann denn ermordet?«
»Er wurde nicht ermordet. Er starb. Er starb, wenn mich nicht alles täuscht, an einem epileptischen Anfall!«
Diese Feststellung Poirots löste wieder erhebliche Erregung aus. Dr. Durand kniete nochmals nieder und untersuchte neuerdings den Leichnam. Endlich erhob er sich.
»Monsieur Poirot, ich glaube, Ihre Annahme ist richtig. Ich ließ mich von Anfang an irreführen. Die unstreitige Tatsache, daß der Mann erstochen wurde, lenkte meine Aufmerksamkeit von allen anderen Anzeichen ab.«
Poirot war der Held der Stunde. Der Untersuchungsrichter erging sich in Lobeshymnen. Poirot dankte liebenswürdig und bat dann, sich zurückziehen zu dürfen, da er, wie er angab, noch nicht gefrühstückt habe und das dringende Bedürfnis fühle, den Reisestaub von seinen Kleidern zu schütteln. Als wir die Hütte verlassen wollten, trat Giraud auf uns zu.
»Noch etwas, Monsieur Poirot«, sagte er mit seiner sanft ironischen Art. »Dies fanden wir um den Griff des Dolches geringelt - ein Frauenhaar.«
»Ah!« sagte Poirot. »Ein Frauenhaar? Von welcher Frau, das wüßte ich gern.«
»Ich auch«, sagte Giraud, verbeugte sich und verließ uns.
»Hartnäckig war der gute Giraud«, sagte Poirot nachdenklich, als wir nach dem Hotel gingen. »Ich möchte gerne wissen, nach welcher Richtung er mich irrezuführen hofft? Ein Frauenhaar - hm!«
Wir aßen mit bestem Appetit, aber Poirot schien mir zerstreut und unaufmerksam. Dann begaben wir uns auf unser Zimmer, und ich bat ihn, mir etwas über seine geheimnisvolle Reise nach Paris zu erzählen.
»Gern, mein Freund. Ich fuhr nach Paris, um dies zu finden.« Er entnahm seiner Tasche einen kleinen, vergilbten Zeitungsausschnitt. Es war die Reproduktion eines Frauenbildnisses.
Er reichte mir das Blatt. Ein erstaunter Ausruf entfuhr mir.
»Erkennst du sie, mein Freund?«
Ich nickte. Obwohl die Fotografie sichtlich schon viele Jahre zurücklag und die Haartracht einer anderen Zeit entsprach, war die Ähnlichkeit unverkennbar.
»Madame Daubreuil!« rief ich aus.
Poirot schüttelte lächelnd den Kopf: »Nicht ganz richtig, mein Freund. In jenen Tagen nannte sie sich anders. Dies ist ein Bildnis der berüchtigten Madame Beroldy!«
Madame Beroldy! Blitzartig kam mir alles in Erinnerung. Jener Mordversuch, der ein so allgemeines Aufsehen erweckt hatte.
16
Etwa zwanzig Jahre vor Beginn unserer Erzählung kam Monsieur Arnold Beroldy, ein gebürtiger Lyoneser, mit seiner hübschen Frau und ihrem kleinen Töchterchen, das fast noch ein Baby war, nach Paris. Monsieur Beroldy war der jüngste Teilhaber einer Weinfirma, ein unscheinbarer Mann in mittleren Jahren, der angenehmes Leben und gute Dinge liebte, seiner reizenden Gattin treu ergeben und durchaus unbedeutend war. Die Firma, die Monsieur Beroldy in Paris leitete, gehörte zu den kleineren Unternehmungen, und obwohl sie gut ging, warf sie für den jüngsten Kompagnon kein großes Einkommen ab. Die Beroldys bewohnten eine kleine Wohnung und lebten zuerst auf sehr bescheidenem Fuße.
Aber so unbedeutend Monsieur Beroldy auch war, so sehr verstand es seine Frau, sich mit einem Schimmer von Romantik zu umgeben. Jung und hübsch und von eigenartig reizendem Wesen, erregte Madame Beroldy sofort Aufsehen in ihrem Bezirk, besonders als Gerüchte aufkamen, daß irgendein interessantes Geheimnis über ihrer Herkunft schwebe. Es wurde geflüstert, daß sie die illegitime Tochter eines russischen Großfürsten, sei. Andere behaupteten, daß es ein österreichischer Erzherzog gewesen und daß sie einer gesetzlichen, obgleich morganatischen Verbindung entsprossen wäre. Aber alle Erzählungen hatten das eine gemeinsam, daß sie Jeanne Beroldy in den Mittelpunkt eines interessanten Geheimnisses stellten. Von Neugierigen befragt, leugnete Madame Beroldy die Gerüchte nicht. Andererseits ließ sie deutlich durchblicken, daß, obwohl ihre »Lippen versiegelt« seien, alle diese Geschichten auf wahrer Grundlage beruhten. Vertrauteren Freunden gegenüber erleichterte sie ihr Herz, sprach von politischen Intrigen, von »Papieren« und dunklen Gefahren, die ihr drohten. Es wurde auch viel von Kronjuwelen gesprochen, die insgeheim verkauft werden sollten, wobei ihr die Rolle einer Vermittlerin zugefallen sei.
Unter den Freunden und Bekannten der Beroldys befand sich ein junger Rechtsanwalt namens Georges Conneau. Bald war es offenbar, daß die bezaubernde Jeanne sein Herz in Banden geschlagen hatte. Madame Beroldy ermunterte den jungen Mann auf unauffällige Weise, war aber immer darauf bedacht, ihre Neigung zu ihrem alternden Gatten zu betonen. Was aber so manche gehässige Leute nicht hinderte, zu erklären, daß der junge Conneau ihr Geliebter sei - und nicht der einzige.
Als die Beroldys drei Monate in Paris verbracht hatten, erschien noch eine Persönlichkeit auf dem Plan. Mr. Hiram P. Trapp, ein sehr wohlhabender Amerikaner. Kaum in den Bannkreis der bezaubernden, geheimnisvollen Madame Beroldy gelangt, war er auch schon ihren Verführungskünsten erlegen. Seine Verehrung war offenkundig, wenn auch streng innerhalb der erlaubten Grenzen.
Um diese Zeit nahmen Madame Beroldys vertrauliche Mitteilungen größeren Umfang an. Sie deutete mehreren Freunden an, daß sie um ihres Mannes willen in großer Sorge sei. Sie erklärte, er wäre in mancherlei politische Pläne verwickelt worden, erwähnte auch verschiedene wichtige Papiere, die man ihm zur Aufbewahrung anvertraut habe und die ein »Geheimnis« betrafen, das von weitreichender europäischer Bedeutung sei. Sie seien ihrer Obhut übergeben worden, um die Verfolger auf falsche Spur zu lenken, aber sie lebe in ständiger Furcht, da sie mehrere Mitglieder der, revolutionären Verbindung in Paris gesehen habe.
Am 28. November platzte die Bombe. Die Aufwartefrau, die täglich kam, um den Haushalt der Beroldys zu besorgen, fand zu ihrem Erstaunen die Wohnungstür weit geöffnet. Sie vernahm leises Stöhnen aus dem Schlafzimmer und trat ein. Ein furchtbarer Anblick bot sich ihr. Madame Beroldy lag auf dem Boden, war an Händen und Füßen gefesselt und stöhnte leise, nachdem es ihr gelungen war, ihren Mund von einem Knebel frei zu machen. Auf dem Bett lag Monsieur Beroldy in einer Blutlache mit einem Messer im Herzen. Madame Beroldys Erzählung war ziemlich klar. Plötzlich erwacht, habe sie zwei maskierte Männer erblickt, die sich über sie neigten. Um ihre Hilferufe zu unterdrücken, hätten diese sie geknebelt und gefesselt. Dann hätten sie von Monsieur das berühmte »Geheimnis« gefordert.
Jedoch der unerschrockene Weinhändler habe ihr Verlangen abgeschlagen. Durch seine Weigerung erbost, habe nun einer der Männer ihn erdolcht. Mit den Schlüsseln des Ermordeten hätten sie dann einen Safe in der Ecke des Zimmer geöffnet und eine Menge Papiere von dort mit sich fortgeführt. Beide Männer trugen mächtige Bärte und Masken, jedoch Madame Beroldy behauptete steif und fest, daß es Russen gewesen seien.
Die Sache erregte ungeheures Aufsehen. Unter verschiedenen. Titeln wurde Bericht darüber erstattet: »Nihilistische Grausamkeit« oder »Revolutionäre in Paris« oder »Das russische Geheimnis«. Die Zeit verging, und niemals kam man den bärtigen Männern auf die Spur. Und dann, eben als das Interesse im Publikum zu erlahmen drohte, ereignete sich ein überraschender Zwischenfalclass="underline" Madame Beroldy wurde verhaftet und des Mordes an ihrem Gatten angeklagt.