Als es zur Verhandlung kam, erhoben sich die widersprechendsten Meinungen. Jugend und Schönheit der Angeklagten und ihre geheimnisvolle Geschichte hatten genügt, um die Sache zu einer Sensation zu machen. Die Leute nahmen heftig für und wider die Angeklagte Partei. Jedoch die Begeisterung ihrer Anhänger erlitt manch schwere Schlappe. Die romantische Vergangenheit von Madame Beroldy, ihr königliches Blut und die geheimnisvollen Intrigen, in denen sie sich so lange gefallen hatte, wurden als bloße Erfindungen ihrer Einbildungskraft festgestellt.
Man bewies einwandfrei, daß Jeanne Beroldys Eltern hochanständige prosaische Obsthändler in einem Vorort von Lyon gewesen waren. Der russische Großfürst, die Hofintrigen und die politischen Umtriebe - all die umlaufenden Geschichten wurden auf die schöne Dame selbst zurückgeführt! Ihrem Hirn waren diese naiven Märchen entsprungen, und es wurde nachgewiesen, daß sie erhebliche Summen von verschiedenen leichtgläubigen Personen auf die ,Kronjuwelen' hin erhalten hatte - jener Kronjuwelen, die als ganz gewöhnliche Glasfälschungen erkannt wurden. Grausam wurde ihre ganze Lebensgeschichte bloßgestellt. Der Grund für die Ermordung wurde in Mr. Hiram P. Trapp gefunden. Mr. Trapp tat, was er konnte, aber unter scharfem, unbarmherzigem Kreuzverhör sah er sich genötigt, schließlich zuzugeben, daß er die Dame liebe und daß er sie, wäre sie frei gewesen, gebeten hätte, seine Gattin zu werden. Die Tatsache, daß die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen platonischer Natur waren, bekräftigte noch den Verdacht gegen die Angeklagte. Durch den einfachen, ehrenhaften Charakter des Mannes davor bewahrt, seine Geliebte zu werden, hatte Jeanne Beroldy den ungeheuerlichen Plan ausgeheckt, sich ihres ältlichen, uneleganten Mannes zu entledigen, um die Gattin des reichen Amerikaners zu werden.
Ihren Anklägern gegenübergestellt, bewahrte Madame Beroldy unentwegt ihre Ruhe und Selbstbeherrschung. Nie wich sie von ihren Behauptungen ab. Immer wieder erklärte sie kühn, daß sie königlicher Abstammung sei, daß sie in frühestem Kindesalter mit dem Töchterchen des Obsthändlers vertauscht worden sei. So lächerlich und völlig aus der Luft gegriffen diese Behauptungen auch waren, glaubten doch eine Menge Leute unbedingt an deren Wahrheit. Die Anklage jedoch war unerbittlich. Sie erklärte, die »maskierten Russen« seien ein Märchen und behauptete, das Verbrechen sei von Madame Beroldy und ihrem Geliebten Georges Conneau verübt worden. Gegen letzteren wurde ein Haftbefehl erlassen, aber er war klugerweise verschwunden. Die Untersuchung ergab ferner, daß die Stricke, mit denen Madame Beroldy gefesselt worden war, eine Selbstbefreiung leicht ermöglichten.
Und dann, gegen Endes des Prozesses, kam ein in Paris aufgegebener Brief an den Staatsanwalt. Der Brief war von Georges Conneau, der, ohne seinen Aufenthalt zu verraten, ein restloses Bekenntnis ablegte. Er gestand, auf Madame Beroldys Anstiften wirklich den fatalen Stoß geführt zu haben. Der Plan zu dem Verbrechen sei von ihnen beiden entworfen worden. In dem Glauben, daß sie von dem Gatten schlecht behandelt werde, und von seiner Leidenschaft für sie hingerissen, habe er die Tat verübt, die der geliebten Frau Befreiung aus verhaßten Banden bringen sollte. Nun zum erstenmal hörte er von Mr. Hiram P. Trapp, und da war es ihm zum Bewußtsein gekommen, daß die Frau, die er liebte, ihn betrogen habe! Nicht seinetwegen hatte sie die Freiheit herbeigesehnt, sondern um den reichen Amerikaner heiraten zu können. Sie hatte ihn als Werkzeug verwendet, und in seiner eifersüchtigen Wut verriet er sie, indem er angab, daß sie die Anstifterin des von ihm begangenen Verbrechens gewesen sei.
Und dann erwies sich Madame Beroldy als die bedeutende Frau, die sie zweifellos war. Ohne zu zögern, gab sie ihre ursprüngliche Verteidigung auf und gestand, daß die »Russen« nur ihre eigene Erfindung gewesen seien. Der wirkliche Mörder sei Georges Conneau gewesen. Toll vor Leidenschaft, habe er das Verbrechen begangen, habe aber auch gedroht, daß er furchtbare Rache üben wolle, falls sie nicht Stillschweigen bewahren werde. Durch seine Drohungen eingeschüchtert, habe sie Schweigen gelobt - ein wenig auch aus Angst, daß sie der Mitschuld angeklagt werden könne, wenn sie die Wahrheit erzähle. Aber sie habe sich standhaft geweigert, je wieder mit dem Mörder ihres Gatten zu tun zu haben, und nur aus Rache, als sie auf ihrem Standpunkt beharrte, habe er den sie belastenden Brief geschrieben. Sie schwor feierlich, daß sie mit dem Plan des Verbrechens nichts zu schaffen habe und daß sie, als sie in jener denkwürdigen Nacht erwachte, Georges Conneau über sich geneigt erblickte, mit dem blutbefleckten Messer in der Hand.
Die Angelegenheit wirbelte viel Staub auf. Madame Beroldys Erzählung war kaum glaubwürdig. Aber diese Frau, deren Märchenerzählungen so leicht hingenommen worden waren, besaß die hohe Gabe, Glauben zu erwecken. Ihr Appell an die Geschworenen war ein Meisterstück. Tränenüberströmt sprach sie von ihrem Kinde, von ihrer Frauenehre - von ihrem Wunsch, um ihres Kindes willen sich einen makellosen Ruf bewahren zu wollen. Sie gab zu, daß sie vielleicht, weil Georges Conneau ihr Geliebter gewesen sei, moralisch für das Verbrechen verantwortlich gemacht werden könne, aber nur vor Gott - und sonst vor niemandem. Sie wisse, daß sie den schweren Fehler begangen habe, Conneau nicht anzuzeigen, aber mit gebrochener Stimme meinte sie, daß keine Frau das zuwege gebracht hätte. Sie habe ihn geliebt! Hätte sie ihn mit eigener Hand zur Guillotine schleifen sollen? Sie habe viel gesündigt, aber an jenem Verbrechen sei sie unschuldig.
Wie immer es auch gewesen sein mag, die Beredsamkeit einer starken Persönlichkeit trug den Sieg davon. Madame Beroldy wurde in einer Szene von noch nie dagewesener Erregung freigesprochen. Trotz der eifrigsten Bemühungen der Polizei gelang es niemals, Georges Conneau festzunehmen. Und von Madame Beroldy ward nichts mehr gehört. Sie nahm ihr Kind und verließ Paris, um ein neues Leben zu beginnen.
17
Ich habe den Fall Beroldy ausführlich wiedergegeben. Natürlich waren mir nicht alle Einzelheiten, die ich erzählte, in Erinnerung geblieben. Aber ich entsann mich im großen und ganzen ziemlich genau. Er hatte zu jener Zeit sehr viel Staub aufgewirbelt, und die englischen Zeitungen brachten ausführliche Berichte, so daß ich meinem Gedächtnis nicht zuviel zumuten mußte, um die wesentlichsten Einzelheiten wiederzufinden.
Es kam mir vor, als klärte dies nun unsere Sache völlig auf. Ich gebe zu, daß ich impulsiv bin - auch Poirot tadelt meine Gewohnheit, in sprunghafter Weise Schlüsse zu ziehen -, aber mir schien, als wäre ich in diesem Falle einigermaßen entschuldigt. Wie bewundernswert diese Entdeckung Poirots seine Ansicht rechtfertigte, sprang mir sofort in die Augen.
»Poirot«, sagte ich, »ich beglückwünsche dich. Ich sehe jetzt alles.«
»Wenn dies wirklich wahr ist, beglückwünsche ich dich, mein Freund. Denn in der Regel bist du nicht sehr berühmt im überblicken einer Situation - nicht wahr?«
Ich war ein wenig ärgerlich.
»Nun, nun, du brauchst mir das jetzt nicht unter die Nase zu reiben. Du tatest die ganze Zeit so verdammt geheimnisvoll mit deinen Winken und bedeutungslosen Einzelheiten, daß wohl niemand gewußt hätte, wo du hinauswolltest!«
Poirot entzündete mit gewohnter Umständlichkeit eine seiner kleinen Zigaretten. Dann sah er auf: »Und da du nun alles siehst, mon ami, was siehst du da eigentlich?«
»Nun, daß Madame Daubreuil-Beroldy Renauld ermordet hat. Die Gleichheit der beiden Fälle beweist dies sonnenklar.«
»Dann bist du also der Ansicht, daß Madame Beroldy unberechtigterweise freigesprochen wurde? Und daß sie in Wirklichkeit die Schuld der Mitwisserschaft an der Ermordung ihres Gatten traf?«