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»Und?«
»Es scheint so seltsam, und doch bin ich dessen fast sicher. Es war am Morgen des Tages, an dem Monsieur Renauld ermordet wurde. Ich ging hier im Garten umher, als der Lärm streitender Männerstimmen an mein Ohr drang. Ich bog die Sträucher auseinander und blickte hindurch. Einer der Männer war Monsieur Renauld, der andere war ein Landstreicher, ein furchtbar aussehendes Individuum, in schmutzigen Lumpen. Manchmal sprach er weinerlich, manchmal drohend. Ich vermutete, daß er Geld verlangte, aber in diesem Augenblick rief Mama mich ins Haus, und ich mußte gehen. Das ist alles, nur - ich glaube bestimmt, daß der Landstreicher und der Mann im Schuppen ein und derselbe sind.«
Poirot rief erstaunt: »Aber warum sagten Sie das nicht gleich, Mademoiselle?«
»Weil mir zuerst nur schien, als käme mir das Gesicht irgendwie bekannt vor. Der Mann war anders gekleidet und gehörte sicherlich einer besseren Gesellschaftsklasse an. Aber sagen Sie, Monsieur Poirot, ist es möglich, daß dieser Landstreicher Monsieur Renauld überfiel und ihn tötete und ihn dann seiner Kleider und seines Geldes beraubte?«
»Das wäre eine Idee, Mademoiselle«, sagte Poirot langsam. »Es läßt allerdings noch viele Fragen offen, aber es wäre sicher eine Idee. Ich will darüber nachdenken.«
Eine Stimme rief vom Hause her.
»Mama«, flüsterte Marthe. »Nun muß ich gehen.« Und sie schlüpfte zwischen den Bäumen hindurch.
»Komm«, sagte Poirot, nahm mich beim Arm, und wir steuerten auf die Villa zu.
»Was denkst du wirklich?« fragte ich neugierig. »War das eine wahre Erzählung oder eine Erfindung des Mädchens, um den Verdacht von ihrem Liebsten abzulenken?«
»Es ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Poirot, »aber ich glaube, daß sie vollkommen wahr ist. Zufällig erfuhren wir noch in anderer Hinsicht durch Mademoiselle Marthe die Wahrheit - während, nebenbei gesagt, Jack Renauld log. Bemerktest du sein Zögern, als ich ihn fragte, ob er Marthe Daubreuil in jener Nacht gesehen habe? Er zögerte und bejahte dann. Ich hatte gleich den Verdacht, daß er log. Es war mir wichtig, Marthe Daubreuil zu sprechen, ehe er sie instruieren konnte. Vier kleine Worte gaben mir die Auskunft, die ich brauchte. Als ich sie fragte, ob sie wisse, daß Jack Renauld in jener Nacht hier war, antwortete sie, ,er sagte es mir'. Nun, Hastings, was tat Jack Renauld wirklich an jenem ereignisreichen Abend hier, wenn er Mademoiselle Marthe nicht besuchte?«
Die Frage überraschte mich.
»Aber Poirot«, rief ich bestürzt, »du wirst doch nicht am Ende glauben, daß ein Mensch wie Jack seinen eigenen Vater ermordet.«
»Mein Freund«, sagte Poirot, »du verharrst weiter in unglaublicher Sentimentalität! Ich sah Mütter, die ihre kleinen Kinder mordeten, um sich in den Genuß einer Versicherungssumme zu setzen! Demnach kann man alles glauben.«
»Und der Beweggrund?«
»Geld selbstverständlich. Vergiß nicht, daß Jack Renauld annahm, er werde nach seines Vaters Tod in den Besitz von dessen halbem Vermögen gelangen.«
»Aber der Landstreicher, was hat der dabei zu tun?«
Poirot zuckte die Achseln.
»Giraud würde sagen, er war ein Mitschuldiger - ein Apache, der dem jungen Renauld half, das Verbrechen zu begehen, und der dann gelegentlich aus dem Wege geräumt wurde.«
»Aber das Haar auf dem Dolch? Das Frauenhaar?«
»Ah«, sagte Poirot und lächelte behaglich. »Das ist die Krone von Girauds kleinen Scherzen. Ihm zufolge ist es gar kein Frauenhaar. Denk daran, daß viele junge Leute ihr Haar von der Stirn bis in den Nacken mit Pomade oder Haarwasser straff zurückbürsten, damit es glatt liegt. Folglich sind einige dieser Haare bemerkenswert lang.«
»Und du glaubst das auch?«
»Nein«, sagte Poirot mit merkwürdigem Lächeln. »Denn ich weiß, daß dies Haar von einer Frau ist - und mehr noch -von welcher Frau!«
»Madame Daubreuil«, sagte ich zuversichtlich.
»Vielleicht«, meinte Poirot abwartend und sah mich spöttisch an.
»Was werden wir jetzt beginnen?« fragte ich, als wir die Halle der Villa Genevieve betraten.
»Ich will Jack Renaulds Habseligkeiten durchsuchen. Deshalb schaffte ich ihn für einige Stunden aus dem Wege.«
»Aber wird Giraud nicht schon alles durchwühlt haben?« fragte ich argwöhnisch.
»Gewiß. Er baut einen Fall, wie der Biber einen Damm, mit unermüdlichem Fleiß. Aber er wird nicht jenen Dingen Beachtung geschenkt haben, die ich suche. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er auch deren Bedeutung nicht erfaßt, wenn sie ihm ins Gesicht gesprungen wären.«
Ordnungsliebend und systematisch öffnete Poirot eine Lade nach der anderen, prüfte deren Inhalt und legte alles wieder genau an seinen Platz. Es war eine eigentümlich langweilige und uninteressante Beschäftigung. Poirot arbeitete sich durch Kragen, Pyjamas und Socken durch. Ein Geräusch von draußen lockte mich ans Fenster.
Sofort fuhr ich wie elektrisiert herum.
»Poirot«, schrie ich, »eben fuhr ein Wagen vor. Giraud sitzt darin mit Jack Renauld und zwei Gendarmen.«
»Donnerwetter!« brummte Poirot. »Konnte Giraud, dieses Vieh, nicht warten? Ich werde keine Zeit mehr haben, die Sachen, wie es sich gehört, in die letzte Lade einzuräumen. Wir müssen uns beeilen.«
Unordentlich warf er alles zu Boden, es waren hauptsächlich Krawatten und Taschentücher. Plötzlich stürzte er sich mit einem Siegesruf auf ein kleines, rechteckiges Stück Pappendeckel, offenbar eine Fotografie. Er versenkte sie in seine Tasche, warf alles kunterbunt wieder in die Lade zurück, packte mich am Arm und lief mit mir die Treppe hinab. In der Halle stand Giraud und betrachtete seinen Häftling.
»Guten Tag, Monsieur Giraud«, sagte Poirot. »Was ist denn hier geschehen?«
Giraud deutete auf Jack.
»Er wagte einen Fluchtversuch, aber ich war scharf hinter ihm her. Er wurde verhaftet wegen Verdacht des Mordes, begangen an seinem Vater, Monsieur Paul Renauld.«
Poirot wandte sich unvermittelt an den jungen Mann, der schlaff, mit aschfahlem Gesicht, an der Tür lehnte.
»Was sagen Sie dazu?«
Jack Renauld starrte unbeweglich auf ihn.
»Nichts«, war seine Antwort.
19
Ich war sprachlos. Bis zuletzt hatte ich mich nicht dazu entschließen können, an Jack Renaulds Schuld zu glauben. Ich hatte nach Poirots Aufforderung laute Unschuldsbeteuerungen erwartet. Aber nun, als ich ihn so bleich und schlaff an der Wand lehnen sah und das belastende Zugeständnis aus seinem eigenen Munde hörte, zweifelte ich nicht länger.
Aber Poirot hatte sich an Giraud gewandt. »Was für Gründe hatten Sie, ihn zu verhaften?«
»Erwarten Sie, diese Gründe von mir zu erfahren?«
»Es wäre ein Gebot der Höflichkeit.«
Zweifelnd sah Giraud auf ihn. Er schwankte zwischen dem Verlangen, grob abzulehnen, und dem Vergnügen, über seinen Gegner zu triumphieren.
»Sie denken vermutlich, daß ich einen Fehler beging?« spottete er.
»Es würde mich nicht überraschen«, erwiderte Poirot mit einem Anflug von Bosheit.
Dunkles Rot färbte die Wangen Girauds.
»Gut, treten Sie hier ein. Sie sollen selbst urteilen.«
Er stieß die Tür des Salons auf, wir traten ein und überließen Jack Renauld der Obhut der beiden anderen Männer.
»Und nun, Monsieur Poirot«, sagte Giraud mit beißendem Hohn und warf seinen Hut auf den Tisch, »will ich Ihnen einen kleinen Vortrag über Detektivarbeit halten. Ich will Ihnen zeigen, wie die moderne Schule arbeitet.«
»Gut«, entgegnete Poirot. »Und ich werde Ihnen zeigen, wie ausgezeichnet die alte Garde lauschen kann.« Er lehnte sich zurück, schloß die Augen, öffnete sie jedoch noch einmal zu einer kurzen Bemerkung: »Glauben Sie nicht, daß ich schlafe. Ich werde Ihrem Vortrag aufmerksam folgen.«