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»Nein, keines von beiden, du kannst es mir glauben, Hastings. Oder bist du anderer Ansicht?«

»Aber der Brief, Poirot. Du vergißt den Brief.«

»Nein, ich vergesse nichts. Aber woraus schließest du, daß dieser Brief an Monsieur Renauld gerichtet war?«

»Nun, er fand sich doch in seiner Tasche und - und -«

»Und das ist alles!« unterbrach Poirot. »Nirgends findet sich ein Name, aus dem geschlossen werden könnte, an wen er gerichtet war. Wir nehmen an, daß er den Ermordeten anging, weil er in dessen Manteltasche steckte. Nun, mon ami, mir fiel gleich etwas Ungewöhnliches an diesem Mantel auf. Ich maß ihn und bemerkte, daß der Tote einen reichlich langen Mantel trug. Diese Bemerkung hätte dir zu denken geben sollen.«

»Ich glaube, du hättest es gesagt, um irgend etwas zu sagen«, gestand ich.

»Aber ich bitte dich! Später sahst du, daß ich auch das Maß des Mantels von Jack Renauld nahm. Nun, Monsieur Jack Renauld trägt einen auffallend kurzen Mantel. Stelle diese beiden Tatsachen einer dritten gegenüber, nämlich der, daß Monsieur Jack Renauld in fliegender Eile aus dem Hause schoß, um seinen Zug nach Paris zu erreichen, und sage mir, wie du dir das erklärst!«

»Ich verstehe«, sagte ich langsam, als mir die Bedeutung von Poirots Bemerkung aufdämmerte. »Jener Brief galt Jack Renauld, nicht seinem Vater. In seiner Eile und Aufregung ergriff er den falschen Mantel.«

Poirot nickte.

»Ja! Wir können später darauf zurückkommen. Begnügen wir uns für den Augenblick mit der Feststellung, daß der Brief nichts mit Renauld senior zu tun hatte, und gehen wir zum nächsten chronologischen Ereignis über.«

»23. Mai«, las ich. »M. Renauld zankt mit seinem Sohn wegen dessen Absicht, Marthe Daubreuil zu heiraten. Der Sohn reist nach Paris!. Ich sehe daran nicht viel Bemerkenswertes, und die Änderung des Testaments am folgenden Tage ist doch genügend erklärbar. Es war die direkte Folge des Streites.«

»Wir sind einer Ansicht, mein Freund - wenigstens was die Sache betrifft:. Aber welcher tiefere Beweggrund veranlaßte Monsieur Renauld zu dieser Maßregel?« Ich öffnete erstaunt die Augen. »Nun, selbstverständlich Unwille gegen den Sohn.«

»Und doch schrieb er ihm zärtliche Briefe nach Paris?«

»So sagt Jack Renauld, aber er kann sie nicht vorweisen.«

»Nun, sehen wir davon ab.«

»Jetzt kommen wir zu dem verhängnisvollen Tag. Wir brachten die Dinge, die sich am Morgen ereigneten, in eine gewisse Ordnung. Kannst du das erklären?«

»Ich habe mich überzeugt, daß der Brief an mich zur gleichen Zeit mit dem Telegramm aufgegeben wurde. Kurz darauf erhielt Masters seinen Urlaub. Meiner Ansicht nach fand der Streit mit dem Landstreicher vor diesen Ereignissen statt.«

»Ich weiß nicht, wieso du das so unanfechtbar behaupten kannst, ohne Mademoiselle Daubreuil darüber nochmals befragt zu haben.«

»Das ist überflüssig. Ich bin meiner Sache vollkommen gewiß. Und wenn du das nicht siehst, dann siehst du überhaupt nichts, Hastings.«

Ich warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Natürlich! Ich bin ein Idiot. Wenn der Landstreicher Georges Conneau war, so fühlte sich Renauld erst nach der stürmischen Unterredung bedroht. Er entfernte Masters, den Chauffeur, den er im Solde der anderen wähnte, er telegrafierte seinem Sohn, und er bat dich herzukommen.«

Schwaches Lächeln kräuselte Poirots Lippen. »Findest du es nicht seltsam, daß er in seinem Brief dieselben Ausdrücke gebraucht, wie später Madame Renauld in ihrer Erzählung? Und wenn die Erwähnung von Santiago eine Irreführung war -weshalb sprach dann Renauld davon, und - noch mehr -weshalb sandte er seinen Sohn hin?«

»Ich gebe zu, daß dies merkwürdig ist, aber vielleicht finden wir später eine Erklärung dafür. Nun kommen wir zum Abend und dem Besuch der mysteriösen Dame. Ich muß gestehen, daß mir das ein Rätsel ist, falls es nicht doch Madame Daubreuil war, wie Francoise die ganze Zeit behauptete.«

Poirot schüttelte den Kopf.

»Mein Freund, mein Freund, wo hast du deine Gedanken? Erinnere dich doch des Scheckfragmentes und der Tatsache, daß der Name Bella Duveen Mr. Stonor nicht unbekannt schien, und ich glaube, wir können es als selbstverständlich ansehen, daß Bella Duveen der volle Name jener unbekannten Dame ist, die jenen Brief an Jack Renauld schrieb, und die an jenem Abend in der Villa Genevieve vorsprach. Ob sie nun die Absicht hatte, Jack aufzusuchen, oder ob sie sich an seinen Vater wenden wollte, können wir nicht mit Sicherheit behaupten, aber ich denke, wir können annehmen, daß dies der Fall war. Sie machte ihre Ansprüche auf Jack geltend, wies vermutlich Briefe von ihm vor, und der Vater versuchte sie durch einen Scheck abzufertigen, den sie empört in Stücke riß. Aus ihrem Brief sprach wirkliche Liebe, und sie empfand es wahrscheinlich aufs schmerzlichste, daß man ihr Geld bot. Schließlich wurde er sie los, und nun sind die Worte, die er sprach, von großer Bedeutung.«

»Ja, ja, aber um Himmels willen gehen Sie jetzt«, wiederholte ich. »Sie kommen mir nur etwas heftig vor, aber das ist alles.«

»Das genügt ja. Er konnte es kaum erwarten, daß das Mädchen sich entfernte. Weshalb? Nicht nur, weil die Unterredung unerquicklich war. Nein, aber die Zeit verging, und aus irgendeinem Grunde war sie kostbar.«

»Weshalb sollte sie es denn gewesen sein?« fragte ich verblüfft.

»Das fragen wir uns selbst. Weshalb sollte sie es gewesen sein? Aber später haben wir den Zwischenfall mit der Armbanduhr - der wieder beweist, welche bedeutungsvolle Rolle in dem Verbrechen der Zeit zufällt. Wir nähern uns jetzt schon fast dem wirklichen Drama. Um halb 11 Uhr verläßt Bella Duveen die Villa, und durch die Armbanduhr können wir nachweisen, daß das Verbrechen vor 12 Uhr verübt oder geplant war. Wir haben alle Ereignisse, die dem Mord vorangingen, mit Ausnahme eines einzigen, besprochen. Nach Aussage des Arztes war der Landstreicher, als er aufgefunden wurde, wenigstens achtundvierzig Stunden tot - mit einem möglichen Spielraum von weiteren vierundzwanzig Stunden. Nun, ohne andere Gründe, als die bereits besprochenen, nahm ich an, daß der Tod ihn am Morgen des 7. Juni ereilte.«

Ich starrte ihn verblüfft an.

»Aber wieso? Warum? Wieso kannst du das wissen?«

»Weil sich nur auf diese Weise die Reihenfolge der Ereignisse logisch erklären läßt. Mon ami, ich habe dich nun Schritt für Schritt auf dem Weg nach vorwärts geleitet. Siehst du noch immer nicht, was so offenkundig klar ist?«

»Mein lieber Poirot, ich kann gar nichts offenkundig Klares sehen. Ich dachte, ich wäre auf richtiger Spur, aber hoffnungsloser denn je irre ich im dunklen.«

Poirot blickte mich bedauernd an und schüttelte den Kopf. »Mein Gott, ist das traurig! Ein ganz kluger Kopf - aber ein so beklagenswerter Mangel an logischem Denkvermögen. Es gibt eine ausgezeichnete Methode, die grauen Zellen zu entwickeln. Ich will sie dir erklären -«

»Nicht jetzt, um Himmels willen! Du bist wirklich einer der aufreizendsten Menschen, Poirot. Um alles in der Welt, fahre fort und sag mir endlich, wer Monsieur Renauld tötete.«

»Das eben weiß ich bis jetzt nicht sicher.«

»Aber du sagtest doch, es sei offenkundig klar?«

»Wir sprechen aneinander vorbei, mein Freund. Vergiß nicht, wir haben zwei Verbrechen zu untersuchen, für die - wie ich dir schon früher klarmachte - zwei Leichen nötig sind. Nun, nun, werde nicht ungeduldig! Ich erkläre dir alles. Wenden wir uns zuerst an unsere Psychologie. Wir haben drei Anhaltspunkte. Den ersten unmittelbar nach seiner Ankunft in Merlinville, den zweiten nach dem Streit mit seinem Sohn wegen einer ganz bestimmten Ursache, den dritten am Morgen des 7. Juni. Nun zu den drei Ursachen. Nummer eins können wir der Begegnung mit Madame Daubreuil zuschreiben. Nummer zwei hängt indirekt mit ihr zusammen, da es die geplante Heirat Jack Renaulds mit ihrer Tochter betrifft. Aber den Grund für Nummer drei kennen wir nicht. Wir müssen ihn ableiten. Nun, mon ami, eine Frage: Wer, glaubst du, ist der Urheber des Verbrechens?«