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Du siehst nun, wie sehr ihn der ungelegene Besuch jener Bell beunruhigte. Jeder Augenblick Verzögerung konnte seinen Plänen verhängnisvoll werden. Doch er entledigte sich ihrer so bald als möglich. Und dann ans Werk! Er läßt den Haupteingang halb offen, um den Eindruck zu erwecken, daß die Mörder auf diesem Wege das Haus verließen. Er fesselt und knebelt Madame Renauld, verbessert aber den vor zwanzig Jahren begangenen Fehler, wo die zu locker gebundenen Stricke den Verdacht der Mittäterschaft erregt hatten, instruiert sie im wesentlichen mit der gleichen Erzählung, die er damals erfunden hatte, wodurch er unbewußt mangelhafte Originalität beweist. Die Nacht ist kalt, und er zieht einen Mantel über seine Unterkleider, in der Absicht, ihn zu dem Toten in das Grab zu legen. Er verläßt das Haus durch das Fenster und glättet sorgfältig das Blumenbeet, wodurch er den sichersten Beweis gegen sich erbringt. Er begibt sich zu den einsamen Golfplätzen und gräbt - und dann -«

»Nun?«

»Und dann«, sagte Poirot ernst, »erreichte ihn die Gerechtigkeit, der er so lange entgangen war. Eine unbekannte Hand sticht ihn in den Rücken ... Nun, Hastings, verstehst du, was ich meinte, als ich von zwei Verbrechen sprach. Das erste Verbrechen, jenes Verbrechen, das Monsieur Giraud in seinem Hochmut uns zu untersuchen überließ (ah, welch grenzenlosen Irrtum beging er da! Wie verkannte er Hercule Poirot!), dies Verbrechen ist aufgedeckt. Aber dahinter liegt ein tieferes Rätsel. Und es wird schwer sein, es zu lösen - da der Verbrecher in seiner Klugheit sich darauf beschränkte, die Pläne M. Renaulds zu verwenden. Es galt, ein ganz verblüffendes, verwirrendes Geheimnis zu lösen. Ein junger Mann wie Giraud, der in Psychologie kein Vertrauen setzt, mußte fast sicher unterliegen.«

»Du bist großartig, Poirot«, sagte ich voll Bewunderung.

»Herrlich wie kein Zweiter! Auf der ganzen Welt hättest nur du das zustande gebracht!«

Ich glaube, mein Lob freute ihn. Denn zum erstenmal im Leben schien er verlegen.

»Du verachtest also nicht länger mehr den armen, alten Papa Poirot? Du kündigst dem menschlichen Spürhund die Treue?«

Diese Bezeichnung für Giraud entlockte mir immer ein Lächeln.

»Eigentlich ja. Du hast ihn restlos besiegt.«

»Der arme Giraud«, sagte Poirot und versuchte erfolglos bescheiden dreinzuschauen, »daran ist nur seine Dummheit schuld. Er hatte ein- oder zweimal Pech. Zum Beispiel das dunkle Haar, das um den Dolch geschlungen war. Das wenigste, was man darüber sagen kann, ist, daß es irreführte.«

»Um die Wahrheit zu gestehen, Poirot«, sagte ich langsam, »ich weiß noch immer nicht, wessen Haar es war?«

»Natürlich von Madame Renauld. Daher kam das Pech. Ihr ursprünglich dunkles Haar ist schon fast völlig silbergrau. Ebensogut hätte ein graues Haar gefunden werden können -und dann wäre es Giraud trotz der denkbar größten Mühe nicht möglich gewesen, sich einzureden, daß dies Haar vom Kopfe Jack Renaulds komme! Aber es ist immer das gleiche. Immer werden Tatsachen verzerrt, um sie der Theorie anzupassen. Fand Giraud nicht zweierlei Fußspuren in der Hütte, die Spuren eines Mannes und einer Frau? Und wie paßt das in seine Rekonstruktion des Falles? Ich will es dir sagen. Es paßt nicht hinein, daher werden wir nichts mehr davon hören! Ich frage dich, nennt man das systematisch arbeiten? Der große Giraud! Der große Giraud ist nichts anderes als ein Luftballon, von seiner eigenen Wichtigkeit geschwellt. Aber ich, Hercule Poirot, den er verachtet, werde die kleine Nadel sein, die den großen Ballon durchsticht ... so!« Und er machte die begleitende Geste dazu.

Dann fuhr er ruhiger fort: »Madame Renauld wird gewiß sprechen, wenn sie sich erholt hat. Die Möglichkeit, daß ihr Sohn des Mordes bezichtigt werden könnte, kam ihr niemals in den Sinn. Wie hätte das ihr auch einfallen sollen, da sie ihn sicher auf See, an Bord der ,Anzona' wähnte. Ah, welch eine Frau ist das, Hastings! Welche Kraft, welche Selbstbeherrschung! Nur einmal beging sie einen Fehler. Bei seiner unverhofften Rückkehr: Jetzt - ist es alles eins.' Und niemandem fiel die Bedeutung dieser Worte auf. Welche schreckliche Rolle war ihr zugefallen, der armen Frau. Stelle dir ihr Entsetzen vor, als sie ging, den Leichnam zu identifizieren, und statt des erwarteten untergeschobenen den wirklich entseelten Körper ihres Gatten vor sich sah, des Gatten, den sie schon meilenweit fern glaubte. Kein Wunder, daß sie ohnmächtig wurde! Aber seither ... wie fest entschlossen spielte sie trotz ihres Schmerzes und ihrer Verzweiflung ihre Rolle weiter, und welche Qualen muß sie getragen haben! Sie kann kein Wort sagen, um uns auf die Spur der wirklichen Mörder zu weisen. Um ihres Sohnes willen darf niemand wissen, daß Paul Renauld kein anderer war als Georges Conneau, der Verbrecher. Schließlich, und als bittersten Schlag, gab sie öffentlich zu, Madame Daubreuil wäre ihres Gatten Geliebte gewesen - denn eine Anspielung auf Erpressung hätte ihrem Geheimnis verhängnisvoll werden können. Wie klug wußte sie dem Untersuchungsrichter zu begegnen, als er sie fragte, ob es in dem Leben ihres Mannes kein Geheimnis gegeben habe.

»Nichts so Romantisches, denke ich, Monsieur.« Vollendet waren ihr nachsichtiger Tonfall, der Anflug trauriger Ironie. Sogleich kam sich Hautet lächerlich melodramatisch vor. Ja, sie ist eine bedeutende Frau! Wenn sie einen Verbrecher liebte, so liebte sie ihn, als wäre sie eine Königin!«

Poirot verlor sich in Betrachtungen.

»Noch etwas, Poirot, was hat es für ein Bewandtnis mit dem Stückchen Bleirohr?«

»Siehst du das nicht? Um das Gesicht des Opfers so zu verunstalten, daß es unkenntlich würde. Das zuerst wies mich auf die richtige Spur. Und Giraud, dieser Dummkopf, der darüber hinwegschwärmte, um nach angebrannten Zündholzenden zu suchen! Sagte ich dir nicht, daß ein zwei Fuß langer Schlüssel ebensoviel wert sein könnte, wie einer von zwei Zoll Länge?«

»Nun, Giraud wird jetzt klein beigeben«, bemerkte ich eilig, um das Gespräch möglichst bald von meinen eigenen Fehlern abzulenken.

»Ja - wird er das? Er wird sich keine Gedanken darüber machen, wenn er auf falschem Wege zum richtigen Ziel gelangte.«

»Aber sicherlich!« Ich hielt inne, als ich sah, welche Richtung die Dinge nahmen.

»Du siehst, Hastings, wir müssen von neuem beginnen. Wer tötete Monsieur Renauld? Jemand, der gerade vor Mitternacht in der Nähe der Villa war, jemand, der von seinem Tod Vorteile für sich erwartete. Die Beschreibung paßt nur zu gut auf Jack Renauld. Das Verbrechen mußte vorher nicht überlegt worden sein. Und dann der Dolch!«

Ich starrte ihn an, ich hatte diesen Punkt nicht bedacht.

»Natürlich«, sagte ich, »Madame Renaulds Dolch war der andere, den wir in dem Herzen des Landstreichers fanden. Es gab also zwei Dolche.«

»Gewiß, und da es sich um ein Duplikat handelt, muß in Betracht gezogen werden, daß Jack der Eigentümer sein konnte. Aber dies beunruhigt mich nicht zu sehr. Ich habe, um die Wahrheit zu sagen, meine eigene bescheidene Ansicht darüber. Nein, die schwerste Beschuldigung gegen ihn ist wieder psychologischer Natur - erbliche Belastung, mon ami, erbliche Belastung! Wie der Vater, so der Sohn von Georges Conneau, man mag sagen, was man will.«

Sein Ton war ernst und feierlich und machte wider meinen Willen Eindruck auf mich.

»Welches ist die Ansicht, die du eben erwähntest?« fragte Ich.

Als Antwort sah Poirot auf seine unförmige Uhr und fragte dann: »Wann geht nachmittags das Schiff von Calais ab?«

»Ungefähr um fünf Uhr, glaube ich.«

»Das ist ausgezeichnet. Wir werden gerade zurechtkommen.«

»Du fährst nach England?«

»Ja, mein Freund.«

»Weshalb?«

»Um möglicherweise einen Zeugen zu finden.«

»Wen?«