»Ach, kümmert mich nicht. Ihr Fall ist sicher belanglos.«
»Wieso kannst du das behaupten?«
»Weil sie sonst, statt zu schreiben, selbst gekommen wäre. Eine Frau kann nicht warten - vergiß das nie, Hastings.«
Um elf Uhr verließen wir Victoria Station in der Richtung nach Dover. Ehe wir abreisten, hatte Poirot ein Telegramm an Mr. Renauld abgeschickt, das ihm die Zeit unserer Ankunft in Calais meldete.
»Ich wundere mich, Poirot, daß du nicht einige Mittel gegen Seekrankheit mitgenommen hast«, bemerkte ich boshaft.
Mein Freund prüfte ängstlich das Wetter und blickte mich vorwurfsvoll an.
»Hast du die ausgezeichnete Methode Laverguiers vergessen? Ich befolge immer seine Verordnungen. Man wiegt sich hin und her, wendet den Kopf von links nach rechts, atmet ein und aus und zählt nach jedem Atemzug, bis sechs.«
»Hm«, wandte ich ein. »Ich fürchte, du wirst des Wiegens und Zählens reichlich müde werden, bis du nach Santiago oder Buenos Aires kommst, oder wo immer dein Bestimmungsort liegen mag.«
»Blöde Idee! Du glaubst doch nicht, daß ich nach Santiago fahren werde?«
»Renauld deutet es in seinem Briefe an.«
»Er kannte Hercule Poirots Arbeitsweise nicht. Ich laufe nicht hin und her, mache keine Reisen und rege mich nicht unnötig auf. Ich arbeite von innen heraus - von hier«, und er klopfte sich vielsagend an die Stirn. Wie gewöhnlich forderte diese Bemerkung meinen Widerspruch heraus.
»Das ist alles sehr schön, Poirot, aber ich glaube, du verfällst in die Gewohnheit, gewisse Dinge zu sehr zu unterschätzen. Ein Fingerabdruck trug schon oft zur Verhaftung und Überführung eines Mörders bei.«
»Und brachte zweifellos mehr als einen Unschuldigen an den Galgen«, bemerkte Poirot trocken.
»Aber das Studium der Fingerabdrücke und Fußspuren, von Zigarettenasche und anderem Zeug und all jene anderen Anhaltspunkte, die zur genauen Beobachtung aller Einzelheiten gehören, sind sicher von großer Bedeutung «
»Aber gewiß. Ich habe nie das Gegenteil behauptet. Der geübte Beobachter, der Sachverständige, ist zweifellos sehr brauchbar. Aber die anderen, die ,Hercule Poirots', stehen höher. Ihnen bringen die Sachverständigen die Tatsachen, ihre Aufgabe ist es, das System des Verbrechers, die logische Schlußfolgerung, die richtige Folge und Ordnung der Tatsachen und vor allem die wahre Psychologie des Falles zu erkennen. Du warst doch sicher auch bei Fuchsjagden, nicht?«
»Ja, ab und zu«, sagte ich etwas verblüfft über diesen plötzlichen Gesprächswechsel. »Warum?«
»Gut, um den Fuchs zu jagen, sind Hunde nötig, nicht wahr?«
»Rüden«, verbesserte ich freundlich. »Ja, natürlich.«
»Ja, aber du steigst doch nicht vom Pferd, um mitzulaufen, den Boden mit der Nase zu beschnüffeln und laut Wau-wau zu rufen?«
Gegen meinen Willen mußte ich nun lachen. Poirot nickte zufrieden.
»So. Du überläßt also die Arbeit den Hun ... , den Rüden. Aber von mir, Hercule Poirot, verlangst du, daß ich mich lächerlich mache, daß ich mich womöglich in nasses Gras legen soll, um fragwürdige Fußspuren zu prüfen, daß ich die Asche von Zigaretten zusammenscharre, wo ich die eine von der anderen nicht unterscheiden kann. Denk an das Geheimnis des Plymouth Expreß. Der gute Japp fuhr die Strecke ab, um sie genau zu überprüfen. Als er heimkehrte, konnte ich, der ich in meiner Wohnung verblieben war, ihm genau voraussagen, was er gefunden hatte.«
»So bist du der Ansicht, daß Japp seine Zeit vergeudet?«
»Durchaus nicht, da ja seine Beweise meine Ansicht bestätigen. Aber für mich wäre es Zeitverschwendung gewesen, wenn ich gefahren wäre. So verhält es sich auch mit den sogenannten Sachverständigen'. Erinnere dich an die Schriftprobe im Fall Cavendish. Die Fragestellung des Staatsanwaltes hatte ein Sachverständigenurteil auf Schriftengleichheit zur Folge, der Verteidiger bringt sie zur entgegengesetzten Ansicht. Die Ausdrucksweise ist sehr gewandt. Und das Ergebnis? Nichts, was uns nicht von Anfang an schon bekannt gewesen wäre. Die Schrift habe große Ähnlichkeit mit John Cavendishs Schrift. Und der grübelnde Verstand wird vor die Frage gestellt, ,weshalb?'. Weil es wirklich seine Schrift ist, oder weil jemand ein Interesse daran hatte, uns glauben zu machen, daß es seine Handschrift sei? Ich beantwortete die Frage, mon ami, und ich beantwortete sie richtig.«
Und Poirot, der mich zwar nicht überzeugt, aber zum Schweigen gebracht hatte, leimte sich befriedigt zurück.
Auf dem Schiff wußte ich mir eine bessere Beschäftigung, als die Einsamkeit meines Freundes zu stören. Das Wetter war prachtvoll und das Meer so glatt wie ein Mühlteich; so war ich durchaus nicht erstaunt, daß sich Laverguiers Methode wieder einmal glänzend bewährt hatte, was mir Poirot lächelnd bei der Landung in Calais versicherte. Dort harrte unser eine Enttäuschung; kein Wagen war für uns da, aber Poirot führte das darauf zurück, daß sein Telegramm verspätet eingetroffen sei.
»Da wir Vollmacht haben, werden wir uns einen Wagen mieten«, sagte er heiter. Und wenige Minuten später konnte man uns in dem wackeligsten aller Automobile, das je auf der Straße nach Merlinville gefahren war, dahinrattern sehen.
Ich war in bester Laune.
»Wundervolle Luft!« rief ich aus. »Das wird eine köstliche Fahrt!«
»Für dich schon, aber nicht für mich, denn mich erwartet Arbeit am Ende dieser Reise «
»Bah!« meinte ich fröhlich. »Du wirst alles aufdecken, Renaulds Lebensgefahr beseitigen, die angeblichen Mörder in Grund und Boden rennen, und alles endet mit einem Lorbeerkranz für dich.«
»Du bist sehr optimistisch, lieber Freund!«
»Ja, ich glaube fest an den Erfolg. Bist du nicht Hercule Poirot?«
Mein kleiner Freund jedoch wollte nicht anbeißen. Er betrachtete mich ernst.
»Du bist in seltsamer Stimmung, Hastings. Das bedeutet Unglück.«
»Unsinn. Jedenfalls teilst du meine Gefühle ja doch nicht.«
»Nein, aber ich habe Furcht.
»Furcht? Wovor?«
»Das weiß ich nicht, aber ich habe eine Ahnung - ein ... ich weiß wirklich nicht ... «
Er sprach so ernsthaft, daß es unwillkürlich Eindruck auf mich machte.
»Ich habe ein Gefühl«, sagte er langsam, »als ob dies ein großer Fall würde - ein langes, mühevolles Problem, das nicht leicht zu lösen sein dürfte.«
Ich hätte gern weiter gefragt, aber wir fuhren eben ins Städtchen Merlinville ein und verlangsamten das Tempo, um den Weg nach der Villa Genevieve zu erfragen.
»Geradeaus, Monsieur. Die Villa Genevieve liegt ungefähr eine halbe Meile hinter der Stadt. Sie können sie nicht verfehlen. Eine große Villa am Meer!«
Wir dankten dem Auskunftgeber und ließen bald die Stadt hinter uns. An einer Straßenkreuzung mußten wir halten. Ein Bauer humpelte mühsam des Weges, und wir warteten auf ihn, um uns aufs neue nach dem Wege zu erkundigen. Rechts neben der Straße stand ein kleines Häuschen, aber es war gar zu unansehnlich, um jene Villa zu sein, die wir suchten.
Während wir warteten, öffnete sich die Tür, und ein Mädchen kam heraus.
Der Bauer war jetzt neben uns, und der Wagenlenker beugte sich hinaus, um Auskunft zu erbitten.
»Die Villa Genevieve? Nur wenige Schritte weiter auf der rechten Seite, Monsieur. Wenn die Kurve nicht wäre, könnte man sie sehen.«
Der Chauffeur dankte und fuhr weiter. Meine Augen hingen wie gebannt an dem jungen Mädchen, das noch immer dastand, die Hand auf der Klinke, und uns beobachtete. Ich bin ein Schönheitsanbeter, und hier war eine Schönheit, an der wohl niemand vorübergehen konnte, ohne sie zu beachten. Sie war sehr hoch gewachsen, ihr Ebenmaß war das einer jungen Göttin, und ihr unbedecktes, goldigschimmerndes Haupt leuchtete im Sonnenlicht. Eines der schönsten Mädchen, das mir je begegnet war! Als wir die holprige Straße hinaufschwankten, wandte ich den Kopf, um sie noch einmal zu betrachten.
»Beim Zeus, Poirot«, rief ich aus, »hast du die junge Göttin gesehen?«