Mit einem etwas seltsamen Lächeln erwiderte Poirot: »Miss Bella Duveen.«
»Aber wie willst du sie finden, was weißt du von ihr?«
»Ich weiß nichts von ihr - aber ich kann mir einiges denken. Wir können als sicher annehmen, daß sie wirklich Bella Duveen heißt, und da ihr Name Gabriel Stonor irgendwie bekannt vorkam, wenn auch nicht in Zusammenhang mit der Familie Renauld, so ist es wahrscheinlich, daß sie der Bühne angehört. Jack Renauld war ein zwanzigjähriger Jüngling mit reichlich viel Geld. Man kann mit Sicherheit voraussetzen, daß seine erste Liebe auf der Bühne zu Hause war. Es paßt auch zu dem Versuch Monsieur Renaulds, sie mit einem Scheck abzufertigen. Ich denke schon, daß ich sie finden werde, besonders mit Zuhilfenahme von diesem da.«
Und er brachte die Fotografie zum Vorschein, die er in meiner Gegenwart der Schublade Jack Renaulds entnommen hatte. »In Liebe von Bella«, stand quer über einer Ecke, aber nicht dies fesselte meine Blicke, Die Ähnlichkeit war nicht in die Augen springend - doch für mich war sie unverkennbar. Es überlief mich kalt, als wäre mir unaussprechliches Unheil widerfahren.
Es war das Antlitz Cinderellas.
22
Einige Augenblicke lang stand ich wie erstarrt, das Bildnis noch in der Hand. Dann raffte ich all meinen Mut zusammen, um unbewegt zu scheinen, und gab es zurück. Zugleich warf ich einen schnellen Seitenblick auf Poirot. Hatte er etwas gemerkt? Zu meiner Beruhigung jedoch schien er mich nicht zu beachten. Das Ungewöhnliche meines Verhaltens mußte ihm entgangen sein.
Lebhaft sprang er auf.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen in aller Eile Reisevorbereitungen treffen. Alles ist in Ordnung - das Meer wird ruhig sein!«
Im Tumult der Abreise hatte ich keine Zeit nachzudenken, aber einmal an Bord, vor Poirots Beobachtung sicher (der, wie gewöhnlich, die ausgezeichneten Ratschläge Dr. Laverguiers befolgte), nahm ich mich zusammen, um den Tatsachen gelassen zu begegnen. Was wußte Poirot alles? Hatte er davon Kenntnis, daß meine Reisebekanntschaft und Bella Duveen ein und dieselbe waren? Weshalb hatte er das Hotel du Phare aufgesucht? Geschah es meinetwegen, wie ich annahm? Oder hatte ich mir dummerweise dies nur eingebildet, und sein Besuch galt einem tieferen, unheilvolleren Zweck?
Aber weshalb bestand er darauf, dieses junge Mädchen zu finden? Vermutete er, daß sie gesehen hatte, wie Jack Renauld das Verbrechen beging? Oder verdächtigte er sie? Aber das war unmöglich! Das Mädchen hatte doch keinen Groll gegen den älteren Renauld, keinen erklärbaren Grund, seinen Tod zu wünschen. Was trieb sie zurück an den Schauplatz der Tat? Aufmerksam überdachte ich alle Ereignisse. Sie mußte den Zug in Calais verlassen haben, als ich mich an jenem Tage von ihr trennte. Kein Wunder also, daß ich sie auf dem Schiff nicht finden konnte. Wäre sie zum Speisen in Calais geblieben und dann mit dem Zug nach Merlinville gefahren, dann hätte sie gerade zu der von Francoise angegebenen Zeit in der Villa Genevieve eintreffen müssen. Was hatte sie getan, als sie knapp nach zehn Uhr das Haus verließ? Vermutlich hatte sie ein Hotel aufgesucht oder war nach Calais zurückgekehrt. Und dann? Das Verbrechen war am Dienstag abend begangen worden. Donnerstag morgen war sie wieder in Merlinville. Hatte sie indessen überhaupt Frankreich verlassen? Ich bezweifelte das sehr. Was hielt sie zurück - die Hoffnung, Jack Renauld zu sehen? Ich erzählte ihr (zur Zeit, da wir es alle glaubten), daß er auf hoher See, unterwegs nach Buenos Aires sei. Vielleicht wußte sie, daß die ,Anzona' nicht in See gestochen war.
Aber um dies zu wissen, mußte sie Jack gesprochen haben. Wollte Poirot dies in Erfahrung bringen? War Jack Renauld, als er zurückkehrte, um Marthe Daubreuil nochmals zu sehen, statt dessen Bella Duveen begegnet, dem Mädchen, das er verlassen hatte?
Ich begann klarer zu sehen. Wenn es sich wirklich so verhielt, so konnte dies Jack zu dem Alibi verhelfen, das er benötigte. Doch unter solchen Umständen war sein Schweigen schwer verständlich. Warum sagte er das nicht geradeheraus? Befürchtete er, daß seine frühere Liebschaft Marthe Daubreuil zu Ohren kommen könnte? Ich schüttelte unzufrieden den Kopf. Die Sache war doch harmlos genug gewesen, eine dumme Jungen- und Mädelgeschichte, und ich überlegte zynisch, daß der Sohn eines Millionärs kaum zu befürchten habe, von einem mittellosen französischen Mädchen, das ihn liebte, ohne zwingenden Grund den Laufpaß zu erhalten.
Ich fand die ganze Sache rätselhaft und unbefriedigend. Es war mir höchst unangenehm, durch Poirot an der Jagd nach dem Mädchen beteiligt zu sein, aber ich sah keinen anderen Ausweg, ohne ihm alles zu gestehen, und dies war ich aus mehreren Gründen nicht willens zu tun.
Frisch und lächelnd kam Poirot in Dover wieder zum Vorschein, und unsere Reise nach London verlief ereignislos. Es war neun Uhr vorbei, als wir ankamen, und ich vermutete, wir würden uns schnurstracks in unsere Wohnung begeben und bis zum nächsten Morgen nichts mehr unternehmen. Aber Poirot dachte anders.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, mon ami. Die Nachricht von der Verhaftung wird zwar nicht vor morgen nachmittag in den englischen Blättern stehen, aber trotzdem dürfen wir keine Zeit verlieren.«
Ich konnte seinem Gedankengang nicht ganz folgen und fragte nur, wie er das Mädchen zu finden beabsichtige.
»Du entsinnst dich doch des Theateragenten Joseph Aaron? Nein? Ich half ihm einmal in Angelegenheiten eines japanischen Ringkämpfers. Ich will dir nächstens einmal die kleine Geschichte erzählen. Er wird uns sicher den Weg weisen können, auf dem wir finden werden, was wir suchen.«
Es brauchte geraume Zeit, bis wir Mr. Aarons habhaft wurden, endlich aber, nach Mitternacht, waren wir so weit. Er begrüßte Poirot mit allen Anzeichen freudiger Überraschung und erklärte sich bereit, uns nach jeder Richtung hin zu Diensten zu sein.
»Es gibt auf den Brettern wenig, was mir unbekannt wäre«, sagte er liebenswürdig lächelnd.
»Ausgezeichnet, Mr. Aaron, ich suche nämlich ein Mädchen namens Bella Duveen.«
»Bella Duveen. Ich kenne den Namen, ich weiß ihn nur augenblicklich nicht unterzubringen. Was ist ihr Fach?«
»Das weiß ich nicht - doch hier ist ihre Fotografie.«
Mr. Aaron betrachtete sie eine Weile, dann hellte sein Gesicht sich auf.
»Hab's schon.« Er schlug sich auf die Schenkel. »Die Duleibella Kids, bei Gott!«
»Die Duleibella Kids?«
»So ist es. Es sind Schwestern. Akrobatinnen, Tänzerinnen und Sängerinnen. Nette kleine Varietenummer. Ich glaube, sie dürften jetzt irgendwo in der Provinz sein -wenn sie nicht gerade Erholungsurlaub nahmen. Die letzten zwei, drei Wochen waren sie in Paris.«
»Können Sie mir ganz genau ausfindig machen, wo sie sind?«
»Nichts leichter als das. Gehen Sie jetzt nach Hause, und morgen früh hören Sie von mir.«
Nach diesem Versprechen verabschiedeten wir uns. Man konnte sich auf sein Wort verlassen. Am nächsten Tage gegen elf Uhr erhielten wir ein gekritzeltes Billett.
»Die Schwestern Duleibella spielen im ,Palace' in Coventry. Glückauf!«
Ohne weiteren Verzug begaben wir uns nach Coventry. Poirot erkundigte sich nicht erst im Theater, sondern löste Sperrsitze für die Abendvorstellung des Varietes.
Die Vorführungen waren über alle Maßen langweilig -oder vielleicht ließ meine Stimmung sie nur so scheinen. Japanische Familien balancierten die verschiedensten Dinge mit verblüffender Sicherheit, elegantseinsollende Männer, in grünlichen Abendanzügen und mit vorzüglich geglättetem Haar, stampften moderne Tänze in prachtvoller Vollendung. Umfangreiche Primadonnen sangen bis in die höchsten Höhen menschlicher Register, und ein Komiker bemühte sich mit wechselndem Erfolg.
Endlich wurde die Nummer aufgezogen, welche die Duleibella Kids ankündigte. Mein Herz schlug zum Zerspringen. Da war sie - oder eigentlich, da waren beide, ein Geschwisterpaar, die eine flachshaarig, die andere dunkel, gleich groß, mit kurzen duftigen Röckchen und riesenhaften braunen Schleifen. Sie sahen wie zwei sehr pikante Kinder aus. Sie begannen zu singen. Ihre Stimmen klangen frisch und echt, etwas dünn und varietemäßig zwar, aber sympathisch.