Ich schüttelte den Kopf. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Obwohl ich nicht erwarten konnte, nach allem, was vorgefallen war, weiter sein Vertrauter zu bleiben, war es mir doch möglich, seine Handlungen zu überwachen. Die einzige Gefahr für Bella war er. Giraud und der französischen Polizei war ihr Vorhandensein gleichgültig. Ich mußte mich daher um jeden Preis an Poirots Fersen heften.
Während mir diese Überlegungen durch den Kopf gingen, betrachtete Poirot mich aufmerksam und nickte dann zufrieden.
»Ich habe also recht, nicht wahr? Und da du imstande wärest, den Versuch zu machen, mir in irgendeiner albernen Verkleidung zu folgen - mit einem falschen Bart zum Beispiel, den jeder natürlich bemerken würde - ziehe ich es vor, daß wir gemeinsam reisen. Es würde mich sehr ärgern, wenn irgend jemand sich über dich lustig machte.«
»Sehr gut also. Aber ich will dich warnen -«
»Ich weiß - ich weiß alles. Du bist mein Feind! Sei denn mein Feind! Das regt mich nicht auf.«
»Solange es fair und offen und ehrlich ist -meinetwegen.«
»Du besitzest die englische Eigenschaft des fair play' zur Genüge! Nun, da deine Bedenken beschwichtigt sind, reisen wir unverzüglich. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Unser Aufenthalt in England war kurz, hat aber genügt. Ich weiß -was ich wissen wollte.«
Der Ton war leicht, aber für mich drang verschleierte Drohung aus seinen Worten.
»Doch -« begann ich und stockte.
»Doch - wie du sagst! Dich befriedigt offenbar die Rolle, die du spielst. Ich - ich beschäftige mich mit Jack Renauld.«
Jack Renauld! Ich fuhr auf! Ich hatte den Stand der Dinge vollkommen vergessen. Jack Renauld im Gefängnis, und über ihm der drohende Schatten der Anklage. Ich sah nun die Rolle, die ich spielte, in düsterem Licht. Ich konnte Bella retten, ja -aber ich lief dabei Gefahr, einen Unschuldigen dem Tode auszuliefern.
Voll Abscheu wies ich den Gedanken von mir. Das konnte nicht sein. Er würde freigesprochen werden. Man würde ihn sicher freisprechen. Aber wieder beschlich mich kalte Angst. Angenommen, er würde nicht freigesprochen? Was dann? Konnte ich das auf mein Gewissen nehmen - welch furchtbarer Gedanke! Würde es schließlich so enden? Eine Entscheidung! Bella oder Jack Renauld? Das schnelle Pochen meines Herzens sagte, ich müsse das Mädchen, das ich liebe, retten, was immer es mich kosten möge. Aber durch ein Menschenopfer? Das änderte die Sache.
Was würde sie dazu sagen? Ich erinnere mich, daß kein Wort über Jack Renaulds Verhaftung über meine Lippen gekommen war. Bis jetzt befand sie sich in völliger Unkenntnis des Umstandes, daß ihr ehemaliger Freund unter Verdacht des scheußlichen Verbrechens, das er nicht begangen hatte, verhaftet worden war. Wenn sie es erfuhr, wie würde sie sich dazu stellen? Würde sie ihr Leben auf Kosten des seinen retten wollen? Selbstverständlich durfte sie nichts Übereiltes tun. Jack könnte und würde wahrscheinlich ohne ihr Dazwischentreten freigesprochen werden. Wenn dies der Fall war, war ja alles gut. Aber wenn nicht? Das war das schreckliche, das unlösbare Problem. Ich nahm an, daß sie nicht die strengste Strafe zu gewärtigen hatte. Die Umstände des Verbrechens lagen ja in ihrem Falle ganz anders. Sie konnte Eifersucht und äußerste Herausforderung vorbringen, und ihre Jugend und Schönheit würden das übrige tun. Die Tatsache, daß infolge eines tragischen Irrtums M. Renauld statt seines Sohnes die Zeche bezahlt hatte, würde an dem Motiv nichts ändern. Aber für jeden Fall mußte das Urteil eine lange Kerkerstrafe bedeuten.
Nein, Bella mußte beschützt werden. Und gleichzeitig mußte man Jack Renauld retten. Wie dies zu machen war, sah ich noch nicht klar. Aber ich baute auf Poirot. Er mußte helfen! Komme, was da wolle, er würde es fertigbringen, einen Unschuldigen zu retten. Er mußte einen anderen als den wirklichen Vorwand finden. Es mochte schwer sein, aber er würde es schon irgendwie fertigbringen. Und wenn dann Bella nicht verdächtigt und Jack Renauld freigesprochen wurde, dann war alles zu einem guten Ende gekommen.
So sagte ich mir immer wieder, aber in der Tiefe meines Herzens lauerte es wie kalte Angst.
24
Wir kreuzten am Abend mit dem Schiff von England hinüber und trafen des Morgens in St. Omer ein, wohin Jack Renauld gebracht worden war. Poirot begab sich unverzüglich zu M. Hautet. Da er keinen Einspruch dagegen erhob, daß ich ihn begleitete, blieb ich bei ihm.
Nach Formalitäten und Verhandlungen verschiedenster Art wurden wir in das Zimmer des Untersuchungsrichters geführt. Er begrüßte uns herzlich.
»Ich hörte, Sie seien nach England zurückgekehrt, Monsieur Poirot. Ich freue mich, daß das Gerücht sich nicht bestätigt.«
»Es ist richtig, daß ich hinüberfuhr, Monsieur, aber nur zu einem flüchtigen Besuch. Eine Nebenfrage, die aber, wie mir schien, von großer Wichtigkeit für die Untersuchungen sein konnte.«
»Und war sie es -?«
Poirot zuckte die Achseln. M. Hautet nickte und seufzte. »Ich fürchte, wir werden uns bescheiden müssen. Giraud hat wohl furchtbare Manieren, aber er ist gewiß begabt! Wenig Aussicht, daß er sich irren könnte!«
»Sie glauben nicht?«
Nun war es an dem Untersuchungsrichter, mit den Achseln zu zucken.
»Also, ehrlich gesprochen - und streng vertraulich selbstverständlich -, können Sie zu einem anderen Schluß gelangen?«
»Ehrlich gesprochen scheint es mir, daß es noch viele dunkle Punkte gibt.«
»Und die sind ... ?«
Doch Poirot ließ sich nicht ausholen.
»Ich habe sie noch nicht zusammengestellt«, bemerkte er. »Es war nur eine allgemeine Bemerkung. Ich mochte den jungen Mann gut leiden und würde tief bedauern, ihn eines so abscheulichen Verbrechens schuldig finden zu müssen. Wie verteidigt er sich übrigens?«
Der Richter runzelte die Stirn.
»Ich kann ihn nicht begreifen. Er scheint unfähig zu sein, sich irgendeine Verteidigung zurechtzulegen. Es war sehr schwer, ihn zur Beantwortung der Fragen zu bewegen. Er beschränkt sich auf beharrliches Leugnen, und darüber hinaus verschanzt er sich hinter hartnäckigstem Schweigen. Ich werde ihn morgen nochmals vernehmen. Vielleicht wäre es Ihnen angenehm, dabei zu sein?«
Wir nahmen die Einladung gerne an.
»Ein verzweifelter Fall!« sagte der Richter seufzend. »Ich habe tiefstes Mitgefühl mit Madame Renauld.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie hat das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt. Einesteils Ist es aber ein Glück für die arme Frau, da ihr dadurch viel erspart wird. Die Ärzte sagen, es bestehe keine Gefahr, es müsse ihr aber nach Möglichkeit jede Erregung ferngehalten werden bis sie wieder bei Besinnung sei. Wenn ich recht verstehe, hat wohl der Schreck mindestens soviel zu ihrem jetzigen Zustand beigetragen wie der Fall. Es wäre furchtbar, wenn ihr Verstand gelitten hätte; aber es würde mich durchaus nicht wundern - nein, durchaus nicht.«
Monsieur Hautet lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf, als ob er traurig, doch zugleich mit Genuß jener düsteren Aussicht entgegensähe.
Darin richtete er sich gerade auf und bemerkte unvermittelt: »Da fällt mir eben ein: Hier habe ich einen Brief für Sie, Monsieur Poirot.« Er durchstöberte seine Papiere. Endlich fand er das Schreiben und händigte es Poirot ein. »Es wurde mir verschlossen zugestellt, mit der Bitte, es an Sie weiterzuleiten«, erklärte er. »Da Sie aber keine Adresse zurückließen, mußte ich davon absehen.«
Neugierig betrachtete Poirot den Brief. In langen, schrägen, fremdartigen Zügen, in ausgesprochener Frauenhandschrift war die Adresse geschrieben. Poirot öffnete den Brief nicht. Er steckte ihn ein und erhob sich.
»Dann auf morgen. Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen und Ihre Liebenswürdigkeit.«
»Aber bitte sehr. Ich stehe immer zu Ihrer Verfügung. Diese jungen Detektive, Schule Giraud, gleichen einander alle