»Auch ich glaube nicht daran, Mademoiselle«, sagte Poirot ernst.
»Aber warum spricht er dann nicht? Ich kann es nicht begreifen.«
»Vielleicht will er jemand schützen«, deutete Poirot an, indem er sie beobachtete.
Marthe blickte finster drein.
»Jemanden schützen? Meinen Sie seine Mutter? Ah, ich verdächtigte sie von Anfang an. Wer erbt das ganze, große Vermögen? Sie. Witwenkleider anlegen und Trauer heucheln ist nicht schwer. Und man sagt, als er verhaftet wurde, sei sie so hingefallen!« Sie machte eine dramatische Bewegung. »Und Monsieur Stonor, der Sekretär, war ihr ganz sicher behilflich. Sie haben es dick hinter den Ohren, die beiden. Zwar ist sie älter als er - aber was fragt ein Mann danach -wenn die Frau reich ist.« Bitterkeit klang aus ihrer Stimme.
»Stonor war in England«, warf ich ein.
»So sagt er - aber wer weiß es?«
»Mademoiselle«, sagte Poirot ruhig, »wenn wir gemeinsam vorgehen sollen, Sie und ich, muß völlige Klarheit zwischen uns sein. Vor allem muß ich eine Frage an Sie richten.«
»Bitte, Monsieur.«
»Ist Ihnen der wirkliche Name Ihrer Mutter bekannt?«
Marthe starrte ihn einen Augenblick an, dann barg sie den Kopf in den Händen und brach in Tränen aus.
»Na, na«, sagte Poirot und klopfte ihr auf die Schulter. »Beruhigen Sie sich, Kleine, ich sehe, daß Sie es wissen. Nun eine zweite Frage: Wußten Sie, wer Monsieur Renauld war?«
»Monsieur Renauld?« Sie blickte Poirot verwundert an.
»Ah, ich sehe, das wissen Sie nicht. Nun hören Sie mir aufmerksam zu.«
Schritt für Schritt ging er den Fall durch, so wie er es mir gegenüber am Tag unserer Abreise nach England getan hatte. Marthe lauschte wie gebannt. Als er geendet hatte, atmete sie schwer.
»Sie sind ja wundervoll - bewundernswert! Sie sind der größte Detektiv der Welt.«
Schnell schlüpfte sie von ihrem Stuhl und kniete mit echt französischem Überschwang vor ihm nieder.
»Retten Sie ihn Monsieur«, rief sie. »Ich liebe ihn so sehr. Oh, retten Sie ihn - retten Sie ihn - retten Sie ihn!«
25
Am nächsten Vormittag wohnten wir dem Verhör Jack Renaulds bei. Ich war erschüttert über die Veränderung, die in der kurzen Zeit mit dem Gefangenen vor sich gegangen war. Seine Wangen waren eingefallen, tief umrändert seine Augen, und er blickte verstört und wirr, wie einer, der viele Nächte den Schlaf vergebens suchte. Er zeigte keinerlei Gemütsbewegung, als er uns erblickte.
Der Gefangene und sein Rechtsbeistand, Maitre Grosier, hatten auf Sesseln Platz genommen. Ein riesengroßer Wachtposten mit glänzendem Säbel stand vor dem Eingang. Der geduldige Gerichtsschreiber saß an seinem Pult. Das Verhör begann.
»Renauld«, sagte der Richter, »leugnen Sie, in der Nacht des Verbrechens in Merlinville gewesen zu sein?«
Jack antwortete nicht sofort, dann erwiderte er mit einer Unschlüssigkeit, die Mitleid weckte: »Ich - ich - sagte Ihnen schon, daß ich in Cherbourg war.«
Maitre Grosier runzelte die Stirn und seufzte. Ich merkte sogleich, daß Jack Renauld zur Verzweiflung seines Rechtsanwaltes halsstarrig daran festhielt, seine Sache nach eigenem Gutdünken zu führen.
Der Richter befahl streng: »Lassen Sie die Zeugen, vom Bahnhof eintreten.«
Eine Minute später wurde die Tür geöffnet, um einen Mann einzulassen, den ich als den Beamten der Station Merlinville wiedererkannte.
»Hatten Sie in der Nacht des 7. Juni Dienst?«
»Ja, Monsieur.«
»Waren Sie zugegen, als der Zug um 11 Uhr 40 einfuhr?«
»Ja, Monsieur.«
»Betrachten Sie den Gefangenen. Erkennen Sie ihn als einen der aussteigenden Passagiere?«
»Ja, Monsieur.«
»Ist ein Irrtum ausgeschlossen?«
»Ja, Monsieur. Ich kenne Monsieur Jack Renauld genau.«
»Aber vielleicht besteht ein Irrtum wegen des Datums?«
»Nein, Monsieur. Denn am folgenden Morgen, am 8. Juni, hörten wir von dem Mord.«
Noch ein anderer Bahnbediensteter wurde vorgeführt, der die Aussage des ersten bestätigte. Der Richter wandte sich an Jack Renauld: »Diese Leute haben Sie bestimmt erkannt. Was haben Sie darauf zu sagen?«
Jack zuckte die Achseln: »Nichts.«
M. Hautet wechselte einen Blick mit dem Gerichtsschreiber, als dessen kratzende Feder die Antwort protokollierte.
»Renauld«, fuhr der Richter fort, »erkennen Sie dies hier?« Er nahm etwas von einem seitlich stehenden Tisch und hielt es dem Gefangenen hin. Mir schauderte, als ich den Dolch erkannte.
»Pardon«, rief Maitre Grosier. »Ich bitte um die Erlaubnis, mit meinem Klienten sprechen zu dürfen, ehe er diese Frage beantwortet.«
Aber Jack Renault nahm keine Rücksicht auf die Gefühle des unglücklichen Grosier.
Er winkte ihm ab und antwortete ruhig: »Gewiß kenne ich es. Es ist ein Geschenk, das ich meiner Mutter gab, ein Erinnerungszeichen an den Krieg.«
»Wissen Sie, ob noch gleiche Dolche existieren?«
Wieder wollte Maitre Grosier einspringen, wieder überging ihn Jack: »Nicht, daß ich wüßte. Er wurde nach meinen Angaben angefertigt.«
Sogar dem Richter stockte beinahe der Atem. Es hatte den Anschein, als stürze sich Renauld mit Absicht in sein Verderben.
Natürlich erkannte ich die zwingende Notwendigkeit, die ihn um Bellas willen bestimmte, das Vorhandensein eines zweiten Dolches abzuleugnen. Denn solange angenommen wurde, daß nur eine Waffe existierte, war t? unwahrscheinlich, daß Verdacht auf Bella fiel, die das zweite Papiermesser besaß. Tapfer schützte er die Frau, die er einst geliebt hatte -aber um welchen Preis! Ich begann, die Größe der Aufgabe, zu erfassen, die ich Poirot leichthin gestellt hatte. Es würde nicht leicht sein, mit Umgehung der Wahrheit einen Freispruch für Jack Renauld zu erwirken.
M. Hautet sprach abermals, und seine Rede hatte einen merkwürdig beißenden Unterton: »Madame Renauld erzählte uns, der Dolch habe in jener Nacht auf ihrem Toilettentisch gelegen. Doch Madame Renauld ist Ihre Mutter! Es dürfte Sie vielleicht wundern, Renauld, aber ich halte es für höchstwahrscheinlich, daß Madame Renauld sich irrte und daß Sie, vielleicht aus Versehen, den Dolch mit nach Paris genommen hatten. Sie werden mir sicher widersprechen -«
Ich sah, wie des Jünglings gefesselte Hände sich verkrampften, wie Schweißperlen auf seine Stirn traten, als er Monsieur Hautet mit größter Anstrengung unterbrach und leise sagte: »Ich werde Ihnen nicht widersprechen. Es ist möglich.«
Das war verblüffend. Maitre Grosier sprang auf und protestierte: »Mein Klient hat furchtbare Nervenanspannungen zu erleiden. Aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, daß er für seine Worte nicht verantwortlich zu machen ist.«
Der Untersuchungsrichter wies ihn ärgerlich zur Ruhe. In diesem Augenblick schienen auch ihm Zweifel aufzusteigen. Jack Renauld hatte das Spiel fast zu weit getrieben, er beugte sich vor und blickte den Gefangenen forschend an: »Renauld, sind Sie sich dessen voll bewußt, daß mir nach Ihren Antworten nichts übrigbleibt, als Sie den Gerichten zu übergeben?«
Jacks blasse Wangen röteten sich. Standhaft erwiderte er den Blick: »Monsieur Hautet, ich schwöre Ihnen, daß ich meinen Vater nicht getötet habe.«
Aber der Richter hatte die vorübergehenden Zweifel überwunden. Kurz und unangenehm lachte er auf.
»Gewiß, gewiß - sie sind ja immer unschuldig, die Herren Verbrecher! Ihr eigener Mund verdammte Sie. Sie können sich nicht verteidigen, kein Alibi erbringen - nur immer Ihre Unschuld betonen - worauf kein Kind hereinfällt. Sie töteten Ihren Vater, Renauld, es war ein grausamer, feiger Mord - um des Geldes willen, das, wie Sie glaubten, nach seinem Tode Ihnen zufallen würde. Ihre Mutter war die Hehlerin. Aber in Anbetracht dessen, daß sie als Mutter handelte, werden die Gerichte gewiß ihr gegenüber jene Milde walten lassen, die Ihnen nicht zugebilligt werden kann. Und mit Recht! Denn Ihr Verbrechen war grauenhaft - ein Abscheu für Gott und Menschen!«