»Weshalb sagtest du es nicht?«
»Vor allem hielt ich es nicht für möglich, daß dir ein solcher Irrtum widerfahren konnte. Du sahst doch das Bild. Die Schwestern gleichen einander zwar sehr, aber keinesfalls so, daß man sie verwechseln mußte.«
»Aber das blonde Haar?«
»Eine Perücke, um auf der Bühne einen pikanten Gegensatz zu schaffen. Ist es begreiflich, daß bei Zwillingen einer schwarz und einer blond sein sollte?«
»Warum sagtest du mir das alles nicht an jenem Abend in Coventry?«
»Du warst zu hochmütig, mon ami«, sagte Poirot trocken, »und gabst mir keine Gelegenheit dazu.«
»Aber später?«
»Ach später! Vor allem verletzte mich dein mangelndes Zutrauen zu mir. Und dann wollte ich sehen, ob deine Gefühle die Probe der Zeit bestehen würden. Das heißt, ob es bei dir diesmal wirklich Liebe oder nur ein aufflackerndes Strohfeuer war. Ich hätte dich nicht mehr lange in dem Irrtum belassen.«
Ich nickte, sein Ton war herzlich, ich konnte ihm nicht länger grollen. Ich blickte auf die Briefbogen nieder. Plötzlich hob ich sie von der Erde auf und schob sie ihm hin.
»Lies das«, sagte ich. »Ich bitte dich darum.«
Schweigend las er, dann sah er mich an.
»Was quält dich, Hastings?«
Das war ein ganz neuer Klang. Poirots ironische Art schien völlig beiseite gelassen. Ich konnte ihm jetzt offen sagen, was mich drückte.
»Sie sagt nicht - sie sagt nicht - nun sie sagt nicht, ob sie mich mag oder nicht!«
Poirot wendete die Blätter: »Ich glaube, du irrst dich, Hastings.«
»Wo?« rief ich und beugte mich lebhaft vor.
Poirot lächelte: »Sie sagt es dir in jeder Zeile dieses Briefes, mon ami.«
»Aber wo werde ich sie finden? Der Brief nennt keine Adresse. Nur ein französischer Stempel ist darauf, sonst nichts.«
»Reg dich nicht auf! Überlasse das dem alten Poirot. Ich werde sie dir ausfindig machen, sobald ich nur fünf freie Minuten habe!«
27
»Meinen Glückwunsch, Monsieur Jack«, sagte Poirot und drückte warm die Hand des jungen Mannes.
Jack Renauld suchte uns sofort nach seiner Entlassung auf - ehe er sich zu Mutter und Braut nach Merlinville begab.
Stonor begleitete ihn.
Poirots Herzlichkeit stand in stärkstem Gegensatz zu Jacks bleichem Aussehen. Es war unverkennbar, daß der Jüngling unter einem Nervenzusammenbruch litt. War auch die unmittelbare Gefahr, die ihm gedroht hatte, beseitigt, so ließen doch die schmerzlichen Umstände seiner Befreiung kein volles Gefühl der Erleichterung aufkommen. Er lächelte traurig und sagte leise zu Poirot: »Ich nahm es auf mich, sie zu schützen, und nun war alles umsonst.«
»Sie konnten doch kaum erwarten, daß das Mädchen das Opfer Ihres Lebens annehmen würde«, bemerkte Stonor trocken. »Sie mußte doch hervortreten, als sie sah, daß Sie dem Galgen zusteuerten.«
»Und Sie steuerten geradewegs darauflos!« fügte Poirot augenzwinkernd hinzu. »Sie hätten aber in dem Fall auch Maitre Grosiers Tod auf dem Gewissen, den der Ärger hinweggerafft hätte.«
»Ich glaube, er war ein wohlmeinender Esel«, sagte Jack. »Aber ich quälte ihn fürchterlich. Wissen Sie, ich konnte ihn doch schwer ins Vertrauen ziehen. Aber, mein Gott! Was wird aus Bella werden?«
»An Ihrer Stelle«, sagte Poirot aufrichtig, »würde ich mich nicht unnötig ängstigen. Die französischen Gerichte sind gegen Jugend, Schönheit und gegen Verbrechen aus Leidenschaft äußerst nachsichtig! Ein tüchtiger Rechtsanwalt wird einen großen Fall mit mildernden Umständen daraus machen. Es wird für Sie nicht gerade angenehm sein -«
»Oh, das ist das wenigste! Sehen Sie, Monsieur Poirot, in einer Beziehung fühle ich mich mitschuldig am Tode meines Vaters. Ohne mich und meine Liebschaft mit jenem Mädchen lebte mein Vater heute noch im Vollbesitz seiner Gesundheit. Und dann meine verdammte Unachtsamkeit, den falschen Mantel mitzunehmen! Ich kann nicht anders, ich fühle mich verantwortlich für seinen Tod. Das wird mich mein Leben lang verfolgen.«
»Nein, nein«, versuchte ich zu beschwichtigen.
»Natürlich ist mir der Gedanke fürchterlich, daß Bella meinen Vater getötet hat«, fuhr Jack fort. »Aber ich habe sie schändlich behandelt. Als ich Marthe begegnete und erkannte, daß ich mich vorher geirrt hatte, wäre es meine Pflicht gewesen, ihr dies offen und ehrlich zu schreiben. Aber ich hatte solche Angst vor einem Skandal, der Marthe zu Ohren kommen könnte und aus dem sie vielleicht Schlüsse zöge, die der Wahrheit nicht entsprächen, daß - nun, daß ich feige wurde und mich der Hoffnung hingab, die Sache würde von selbst im Sand verlaufen. Ich ließ mich treiben und merkte nicht, daß ich das arme Ding zur Verzweiflung brachte. Hätte sie mich erdolcht, wie es doch vermutlich ihre Absicht war, mir wäre nicht mehr geschehen, als ich verdiente. Und die Art, wie sie nun hervortrat, war geradezu prachtvoll. Aber wissen Sie, auch ich hätte es durchgestanden - bis zum Ende.«
Er schwieg einige Augenblicke, um dann ein anderes Thema anzuschlagen.
»Was mir zu denken gibt, ist, was wohl den Vater zu so später Abendstunde bewog, nur mir Unterwäsche und meinem Mantel bekleidet, spazierenzugehen. Ich glaube, er mußte eben den fremden Kerlen entkommen sein, und meine Mutter dürfte sich in der Vermutung getäuscht haben, daß es zwei Uhr war, als sie kamen. Oder - oder war das alles vielleicht erfunden? Ich meine, meine Mutter dachte doch nicht - konnte doch nicht denken - daß - daß ich es war?«
Poirot beruhigte ihn schnelclass="underline" »Nein, nein, Monsieur Jack. Seien Sie darüber ohne Sorge. Und was das andere betrifft, will ich Ihnen an einem der nächsten Tage alles erklären. Es ist eigentlich sehr seltsam. Aber wollen Sie uns nicht genau erzählen, was sich an jenem furchtbaren Abend zutrug?«
»Es ist nur sehr wenig zu erzählen. Wie ich Ihnen sagte, kam ich aus Cherbourg, um Marthe noch einmal zu sehen, ehe ich nach dem anderen Ende der Welt abreiste. Der Zug hatte Verspätung, und ich beschloß, den Verbindungsweg zu nehmen, der über die Golfgründe führt. Von dort konnte ich mit Leichtigkeit in den Garten der Villa Marguerite gelangen. Ich war schon fast an Ort und Stelle angelangt, als -« Er zögerte und schluckte heftig.
»Als?«
»Als ich einen fürchterlichen Schrei vernahm. Es klang nicht laut - eher gedämpft und wie ein Röcheln. Einen Augenblick stand ich wie angewurzelt. Dann rannte ich hinter die Hecke. Es war Vollmond. Ich sah das Grab und sah eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten darin liegen, im Rücken stak ein Dolch. Und dann blickte ich auf und sah sie. Sie blickte mich an, als sähe sie ein Gespenst - das mußte sie auch zuerst gedacht haben - vor Entsetzen waren ihre Züge zur ausdruckslosen Maske erstarrt. Und dann schrie sie auf, wandte sich um und lief davon.« Er hielt inne, um seine Erregung zu meistern.
»Und dann?« fragte Poirot freundlich.
»Ich weiß wirklich nicht. Eine Weile stand ich wie betäubt. Und dann sah ich ein, daß es das beste sei, mich so schnell wie möglich aus dem Staube zu machen. Es fiel mir nicht ein, daß man mich verdächtigen könne, aber ich fürchtete vorgeladen zu werden, um gegen sie auszusagen. Ich ging zu Fuß bis St. Beauvais, wie ich Ihnen bereits erzählte, und mietete dort einen Wagen, der mich nach Cherbourg zurückbrachte.«
Es pochte an die Tür, und ein Bote brachte ein Telegramm, das er Stonor überreichte. Er riß es auf und erhob sich von seinem Sitz.
»Madame Renauld ist wieder zu Bewußtsein gekommen«, sagte er.
»Ah!« Poirot sprang hoch. »Auf nach Merlinville!«
Wir fuhren in aller Eile ab. Auf Jacks dringende Bitte blieb Stonor zurück, um alles, was für Bella Duveen getan werden konnte, zu veranlassen. Poirot, Jack und ich fuhren in Renaulds Auto fort.
Die Fahrt dauerte genau vierzig Minuten. Als wir uns der Gartenpforte der Villa Marguerite näherten, blickte Jack. Renauld fragend zu Poirot hinüber.