»Wie wäre es, wenn Sie vorausführen, um meine Mutter von meiner Befreiung zu benachrichtigen?«
»Während Sie persönlich diese Kunde Mademoiselle Marthe überbringen, nicht?« endigte Poirot augenzwinkernd. »Aber ja, selbstverständlich, ich wollte es Ihnen eben selbst vorschlagen.«
Jack Renauld ließ sich das nicht zweimal sagen. Er brachte den Wagen zum Stehen, sprang hinaus und lief den Weg zum Eingang hinan. Wir fuhren zur Villa Genevieve weiter.
»Poirot«, sagte ich, »erinnerst du dich, wie wir an jenem ersten Tage ankamen und mit der Nachricht von Monsieur Renaulds Ermordung empfangen wurden?«
»O ja, gewiß. Es ist noch nicht so lange her. Aber wie vieles ist seither geschehen - besonders dir, mon ami!«
»Poirot, was hast du veranlaßt, um Bei - ich meine Dulcie - ausfindig zu machen?«
»Beruhige dich, Hastings. Ich bringe alles in Ordnung.«
»Du läßt dir nur hübsch viel Zeit dazu«, brummte ich.
Poirot wechselte das Thema. »Damals der Anfang, nun das Ende«, philosophierte er, als wir läuteten. »Und vom Standpunkt des interessanten Falles aus ist das Ende doch äußerst unbefriedigend.«
»Jawohl«, seufzte ich.
»Du betrachtest es vom sentimentalen Gesichtspunkt aus, Hastings. So meinte ich es nicht. Wir wollen hoffen, daß Mademoiselle Bella nachsichtige Richter finden wird, und schließlich konnte Jack Renauld doch nicht beide Mädchen heiraten! Ich sprach vom beruflichen Standpunkt. Dies ist kein wohlgeordnetes, regelrechtes Verbrechen, wie Detektive es lieben. Der Plan, den Georges Conneau entworfen hatte, war einwandfrei, aber die Entwicklung - o nein! Ein Mann, der von einem jungen Mädchen in einem Wutanfall zufällig ermordet wird, - na, wirklich, wo stecken da Ordnung und System?«
Während ich noch über Poirots Eigenheiten lachte, öffnete Francoise uns die Tür.
Poirot erklärte ihr, daß er Madame Renauld sofort sprechen müsse, und sie führte ihn zu ihr. Ich blieb im Salon. Es dauerte eine geraume Weile, ehe Poirot wiederkam. Er blickte ungewöhnlich ernst.
»Donnerwetter, Hastings! Gab's da oben aber einen Sturm!«
»Was denn?« rief ich.
»Ich wollte es kaum glauben«, sagte Poirot gedankenvoll, »aber Frauen sind eben unberechenbar.«
»Jack und Marthe kommen!« rief ich, da ich sie durch das Fenster erblickt hatte.
Mit einem Satz war Poirot aus dem Zimmer und lief dem jungen Paar bis an die Treppe entgegen.
»Treten Sie ja nicht ein. Es ist besser so. Ihre Mutter ist sehr erregt.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Jack Renauld. »Ich will sofort zu ihr.«
»Aber nein. Ich sage Ihnen doch, Sie sollen nicht.«
»Aber Marthe und ich-«
»Keinesfalls dürfen Sie Mademoiselle mit hinaufnehmen. Gehen Sie in Gottes Namen, wenn Sie nicht anders können, aber es wäre klüger, meinem Rat zu folgen.«
Eine Stimme hinter uns, von der Treppe her, ließ uns erschauern: »Ich danke Ihnen für Ihre guten Dienste, Monsieur Poirot, aber ich will selbst sagen, was ich zu sagen wünsche.«
Wir blieben starr vor Staunen. Mit verbundenem Kopf, auf Leonies Arm gestützt, kam Mme. Renauld die Treppe herab. Das französische Mädchen weinte und beschwor seine Herrin, ins Bett zurückzugehen.
»Madame wird sich den Tod holen. Es ist gegen alle ärztlichen Vorschriften.«
Doch Madame Renauld ließ sich nicht halten.
»Mutter«, rief Jack und lief ihr entgegen.
Aber sie schob ihn von sich.
»Ich bin nicht deine Mutter! Du bist nicht mein Sohn! Von dieser Stunde an verleugne ich dich.«
»Mutter«, rief der Jüngling bestürzt.
Einen Augenblick lang schien sie zu wanken, vor dem Schmerz in seiner Stimme unschlüssig zu werden. Poirot wollte vermitteln, aber sofort gewann sie ihre Selbstbeherrschung wieder. »Deines Vaters Blut komme über dich! Du trägst die Schuld an seinem Tode. Du hast seine Pläne durchkreuzt und ihm dieses Mädchens wegen Trotz geboten, durch dein herzloses Verhalten gegen eine andere beschworst du seinen Tod herauf. Morgen werde ich alles veranlassen, damit kein Pfennig des Vermögens dir jemals zufällt. Suche dir deinen Weg in der Welt, so gut du kannst, mit dem Mädchen, deren Mutter die erbittertste Feindin deines Vaters war.«
Und langsam, mühsam ging sie den Weg zurück, den sie gekommen war.
Wir waren sprachlos, diese Anklage traf uns völlig unvorbereitet. Jack Renauld, der von allem bisher Erlebten völlig erschöpft war, schwankte und drohte umzusinken. Poirot und ich eilten ihm schnell zu Hilfe.
»Er ist übermüdet«, flüsterte Poirot Marthe zu. »Wohin sollen wir ihn führen?«
»Aber nach Hause. Zur Villa Marguerite. Wir wollen ihn pflegen, Mutter und ich. Mein armer Jack!«
Wir brachten den jungen Mann in die Villa, wo er schlaff und wie betäubt auf einen Sessel sank. Poirot befühlte ihm Kopf und Hände.
Er fiebert. Die lange Nervenanspannung fängt an, sich fühlbar zu machen. Und nun noch zu allem diese Aufregung.
Bringt ihn zu Bett! Hastings und ich werden einen Arzt holen.«
Der Arzt war bald zur Stelle. Nachdem er den Patienten untersucht hatte, meinte er, daß es sich seiner Ansicht nach um eine gewöhnliche Nervenkrise handle. Bei vollkommener Ruhe und ungestörtem Schlummer könne der junge Mann bis zum nächsten Tage wiederhergestellt sein, rege er sich jedoch auf, sei eine Gehirnentzündung zu befürchten. Es sei ratsam, daß jemand die ganze Nacht bei ihm wache.
Schließlich - nachdem wir unser möglichstes getan hatten - überließen wir ihn der Fürsorge Marthes und ihrer Mutter und kehrten in die Stadt zurück. Unsere gewohnte Speisestunde war überschritten, und wir waren beide reichlich ausgehungert. Das erste Restaurant, das am Wege lag, stillte den quälenden Hunger durch ein vorzügliches Omelette und einen darauffolgenden ebenso ausgezeichneten Braten.
»Und nun auf ins Nachtquartier«, sagte Poirot, als endlich noch schwarzer Kaffee das Mahl vervollständigt hatte. »Wollen wir es mit unserem alten Hotel des Bains versuchen?«
Unverzüglich lenkten wir unsere Schritte dahin. Ja, die Herren könnten in zwei guten Zimmern mit Meeresansicht untergebracht werden. Dann stellte Poirot eine Frage, die mich überraschte. »Ist Miss Robinson aus England angekommen?«
»Ja, Monsieur, sie wartet im kleinen Salon.«
»Ah!«
»Poirot«, rief ich und bemühte mich, mit ihm Schritt zu halten, als er den Gang entlang eilte, »wer ist Miss Robinson?«
Poirot lachte freundlich: »Ich habe dir eine Braut verschrieben, Hastings.«
»Aber ich muß sagen -«
»Bah!« entgegnete Poirot und stieß mich freundschaftlich über die Schwelle. »Denkst du, ich würde in Merlinville den Namen Duveen laut hinausposaunen?«
Und wirklich war es Cinderella, die uns im Salon entgegentrat. Ich nahm ihre Hand zwischen meine beiden Hände. Meine Augen sagten das übrige.
Poirot räusperte sich.
»Kinder«, sagte er, »wir dürfen uns noch nicht erlauben, sentimental zu sein. Wir haben noch Arbeit vor uns. Mademoiselle, war es Ihnen möglich, zu tun, worum ich Sie bat?«
Statt jeder Antwort entnahm Cinderella ihrer Handtasche einen in Papier gewickelten Gegenstand, den sie Poirot schweigend reichte. Er packte ihn aus. Ich fuhr zurück - denn es war der Dolch, den sie, wie ich glaubte, ins Meer geworfen hatte. Sonderbar, wie sehr es Frauen immer widerstrebt, die kompromittierendsten Gegenstände und Schriftstücke zu vernichten!
»Sehr gut, mein Kind«, sagte Poirot. »Ich bin mit Ihnen zufrieden. Gehen Sie nun zur Ruhe. Hastings und ich haben heute noch Arbeit. Sie sehen ihn dann morgen wieder.«
»Wohin gehen Sie?« fragte das Mädchen mit weit geöffneten Augen.
»Morgen werden Sie alles erfahren.«
»Wohin Sie gehen, gehe auch ich.«
»Aber, Mademoiselle -«
»Ich sage Ihnen, ich gehe mit.«