Poirot sah ein, daß jeder weitere Einwand vergeblich gewesen wäre. So willigte er ein.
»Kommen Sie also mit, Mademoiselle. Doch unterhaltend wird es nicht sein. Wahrscheinlich wird gar nichts geschehen.«
Zwanzig Minuten später brachen wir auf. Es war stockfinster, ein drückend schwüler Abend. Poirot führte uns aus der Stadt hinaus. Bei der Villa Marguerite blieb er stehen.
»Ich möchte mich gern vergewissern, ob mit Jack Renauld alles in Ordnung ist. Komm mit mir, Hastings. Mademoiselle wird vielleicht draußen auf uns warten. Madame Daubreuil wäre imstande, ihr etwas Verletzendes zu sagen.«
Wir öffneten die Gittertür und gingen den Kiesweg entlang. Als wir an das Haus kamen, lenkte ich Poirots Aufmerksamkeit auf ein Fenster im ersten Stock. Auf der matten Fensterscheibe zeichnete sich scharf das Profil von Marthe Daubreuil ab.
»Ah!« sagte Poirot. »Dies ist das Zimmer, in dem wir Jack Renauld finden dürften.«
Madame Daubreuil öffnete uns die Tür. Sie teilte uns mit, daß Jacks Zustand unverändert sei und fragte, ob wir uns hiervon überzeugen wollten. Sie führte uns die Treppen hinauf bis in das Schlafzimmer. Marthe Daubreuil saß an einem Tisch und arbeitete beim Schein einer Lampe. Als wir eintraten, legte sie den Finger an die Lippen.
Jack Renauld schlummerte unruhig und ungleichmäßig, er warf sich von einer Seite auf die andere, sein Antlitz glühte noch immer unverhältnismäßig stark.
»Kommt der Arzt wieder?« fragte Poirot flüsternd.
»Erst wenn wir ihn rufen. Er schläft - das ist das Wichtigste. Mama kochte ihm einen Kräutertee.«
Sie machte sich wieder an ihre Stickarbeit, als wir das Zimmer verließen. Madame Daubreuil geleitete uns hinunter. Ich betrachtete sie, da ich um ihre Vergangenheit wußte, mit gesteigertem Interesse. Sie stand da mit niedergeschlagenen Augen und dem gleichen leisen, rätselhaften Lächeln auf den Lippen, das ich schon an ihr gesehen hatte. Und plötzlich flößte sie mir Angst ein, Angst, wie man sie angesichts eines schönen giftigen Reptils empfindet.
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu sehr gestört, Madame«, sagte Poirot höflich, als sie die Tür öffnete, um uns hinauszulassen.
»Gar nicht, Monsieur.«
»Übrigens war Mr. Stonor heute nicht in Merlinville?«
Ich konnte nicht ergründen, was diese Frage bezweckte, da ich genau wußte, wie bedeutungslos sie für Poirot war.
Madame Daubreuil antwortete völlig beherrscht: »Nicht, daß ich wüßte.«
»Hatte er nicht vielleicht eine Unterredung mit Madame Renauld?«
»Woher sollte ich das wissen, Monsieur?«
»Sehr richtig«, meinte Poirot. »Ich dachte nur, Sie hätten ihn vielleicht kommen oder gehen sehen, sonst nichts. Gute Nacht, Madame.«
»Warum -« begann ich.
»Kein ,warum' jetzt, Hastings. Dazu wird sich später Zeit finden.«
Wir trafen Cinderella und legten eiligst den Weg zur Villa Genevieve zurück. Poirot blickte einmal nach dem erleuchteten Fenster und nach Marthes Profil, das sich über die Arbeit neigte. »Für alle Fälle wird er bewacht«, flüsterte er.
Bei der Villa angelangt, nahm Poirot hinter einigen Büschen Aufstellung, links von der Auffahrt, von wo wir, wohl verborgen, einen guten Ausblick hatten. Die Villa selbst lag im tiefsten Dunkel. Augenscheinlich schlief alles. Wir waren beinahe unmittelbar unter Madame Renaulds Schlafzimmer, dessen Fenster, wie ich sah, offenstand. Es schien, daß dies Poirots Blicke fesselte.
»Was werden wir jetzt tun?« flüsterte ich.
»Achtgeben.«
»Aber -«
»Ich erwarte nicht, daß sich vor ein bis zwei Stunden etwas ereignet, aber -«
Seine Rede wurde von einem langgezogenen, schwachen Schrei unterbrochen.
»Hilfe!«
In einem Zimmer des ersten Stockes, rechts vom Haupteingang, flammte Licht auf. Von dort kam auch der Schrei. Und während wir beobachteten, fiel ein Schattenriß, wie von zwei kämpfenden Gestalten, auf den Vorhang.
»Verdammt!« schrie Poirot. »Sie muß ihr Zimmer gewechselt haben.«
Er stürmte vorwärts und schlug heftig an das Haupttor. Dann eilte er zu dem Baum im Blumenbeet und erkletterte ihn mit der Behendigkeit einer Katze. Ich folgte ihm nach, als er sich mit einem Satz durch das offene Fenster ins Zimmer schwang. Zurückblickend sah ich Dulcie auf einem Ast hinter mir.
»Geben Sie acht«, rief ich.
»Geben Sie auf Ihre Großmutter acht!« gab sie zurück. »Das hier ist ein Kinderspiel für mich.«
Poirot stürmte durch das leere Zimmer und mühte sich vergeblich an einer Tür.
»Versperrt und von außen verriegelt«, stöhnte er. »Und es wird Zeit kosten, sie aufzubrechen.«
Die Hilferufe wurden merklich schwächer. Verzweiflung sprach aus Poirots Blicken. Wir stemmten uns gemeinsam gegen die Tür.
Ruhig und leidenschaftslos kam Cinderellas Stimme vom Fenster.
»Sie werden zu spät kommen. Ich glaube, daß ich die einzige bin, die da helfen kann.«
Bevor ich einen Finger rühren konnte, um sie abzuhalten, schwang sie sich aus dem Fenster, scheinbar ins Leere. Atemlos blickte ich ihr nach. Zu meinem Entsetzen sah ich sie nur an den Händen am Dach hängen und sich ruckweise in der Richtung des erleuchteten Fensters bewegen.
»Gütiger Himmel! Sie wird sich das Genick brechen!« schrie ich.
»Du vergißt, daß sie Berufsakrobatin ist, Hastings. Gottes Vorsehung ließ sie darauf bestehen, heute nacht mit uns zu kommen. Ich bete nur, daß sie rechtzeitig kommt. Ah!«
Ein Schrei grenzenlosesten Entsetzens durchschrillte die Nacht, als das Mädchen im Fenster verschwand, und dann hörten wir Cinderellas klare Stimme: »Nein, Sie werden es nicht tun. Ich halte Sie - und meine Hände sind wie Stahl.«
Gleichzeitig öffnete Francoise vorsichtig die Pforte unseres Gefängnisses. Poirot schob sie einfach beiseite und durchflog den Gang bis zu jener anderen Tür, um die sich die Hausmägde drängten.
»Sie ist von innen versperrt, Monsieur.«
Von drinnen klang ein schwerer Fall. Wenige Sekunden später bewegte sich der Schlüssel im Schloß, und langsam ging die Tür auf. Totenbleich winkte Cinderella uns heran.
»Ist sie gerettet?« fragte Poirot.
»Ja, es war die höchste Zeit. Schon war sie kraftlos.«
Mme. Renauld saß in halb liegender Stellung auf dem Bett. Sie rang nach Atem.
»Fast hätte sie mich erwürgt«, flüsterte sie mühsam.
Das Mädchen hob etwas vom Fußboden auf und reichte es Poirot. Es war eine sehr dünne, aber starke seidene Strickleiter.
»Ein Fluchtmittel«, sagte Poirot. »Um durch das Fenster zu entkommen, während wir die Tür eindrückten. Wo ist - die andere?«
Das Mädchen wich ein wenig zur Seite und wies auf eine Gestalt, die mit verhülltem Antlitz auf dem Boden lag.
»Tot?«
Sie nickte.
»Ich glaube. Der Kopf scheint auf den marmornen Kaminvorsatz aufgeschlagen zu sein.«
»Aber wer ist es denn?« schrie ich.
»Die Mörderin Renaulds, Hastings, und beinahe auch die Mörderin von Madame Renauld.«
Bestürzt und verständnislos kniete ich nieder, lüftete das Ende des Tuches und blickte in das tote, schöne Antlitz von Marthe Daubreuil!
28
An die weiteren Ereignisse jener Nacht habe ich nur eine verworrene Erinnerung. Poirot blieb meinen wiederholten Fragen gegenüber taub. Er überschüttete Francoise mit Vorwürfen, weil sie ihm verschwiegen hätte, daß Mme. Renauld nun ein anderes Schlafzimmer habe.
Fest entschlossen, mir Gehör zu verschaffen, packte ich ihn an der Schulter.
»Aber du müßtest es doch gewußt haben«, stritt ich, »du besuchtest sie doch am heutigen Nachmittag.«
Poirot geruhte mich vorübergehend anzuhören. »Man hatte sie auf einem Ruhebette in das mittlere Zimmer - in den Salon - geschoben.«