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In der Zwischenzeit hatte ich die nötigen Schritte getan, um Marthe Daubreuil zum offenen Kampfe herauszufordern. Auf meine Veranlassung verstieß Madame Renauld ihren Sohn und erklärte, ihr Testament am folgenden Tage dahin abändern zu wollen, daß ihm niemals auch nur der kleinste Teil von seines Vaters Vermögen zufallen solle. Es war ein verzweifelter, aber notwendiger Schritt, und Madame Renauld war völlig bereit, ihn auf eigene Gefahr zu tun, obwohl sie unglücklicherweise zu erwähnen vergaß, daß sie ein anderes Zimmer bezogen hatte. Ich vermute, sie hielt es für selbstverständlich, daß ich das wußte. Alles, ereignete sich, wie ich voraussah. Marthe Daubreuil wagte einen letzten kühnen Angriff auf die Millionen der Renaulds - und unterlag!«

»Was mich besonders wundert«, sagte ich, »ist, wie sie in das Haus gelangen konnte, ohne daß wir sie bemerkten. Es kommt mir wie ein Wunder vor. Wir ließen sie in der Villa Marguerite zurück, begaben uns direkt zur Villa Genevieve -und doch ist sie vor uns dort.«

»Ja, aber wir ließen sie nicht zurück. Sie verließ die Villa Marguerite durch ein Hinterpförtchen, während wir mit ihrer Mutter in der Halle plauderten. Auf diese Weise legte sie Hercule Poirot hinein, wie die Amerikaner sagen.«

»Aber der Schatten an der Fensterscheibe. Wir sahen Ihn doch vom Weg aus.«

»Eh bien, bis wir uns umsahen, hatte Madame Daubreuil gerade Zeit gehabt, die Treppe hinaufzueilen und den Platz ihrer Tochter einzunehmen.«

»Madame Daubreuil?«

»Ja. Zwar ist die eine alt, die andere jung, die eine braun, die andere blond, aber im Schattenriß an der Fensterscheibe gleichen die Profile einander sehr. Nicht einmal ich schöpfte Verdacht - dreifacher Dummkopf, der ich war! Ich dachte, ich hätte reichlich Zeit vor mir - da ich annahm, daß sie erst viel später versuchen würde, in die Villa einzudringen. Sie war sehr klug, die schöne Marthe Daubreuil.«

»Und sie beabsichtigte, Madame Renauld zu ermorden?«

»Ja, dann wäre das ganze Vermögen auf den Sohn übergegangen. Und Madame Renauld hätte Selbstmord begangen, mon ami! Neben Marthe Daubreuils Leichnam, auf der Erde, fand ich einen Wattebausch, ein kleines Fläschchen mit Chloroform und eine Injektionsspritze, die eine tödliche Dosis Morphium enthielt. Verstehst du? Erst das Chloroform -und wenn das Opfer bewußtlos ist, ein Nadelstich. Bis zum Morgen ist der Geruch des Chloroforms verschwunden, und die Spritze liegt da, als wäre sie der Hand Mme. Renaulds entfallen. Was hätte der wackere Monsieur Hautet gesagt? Arme Frau! Was sagte ich Ihnen? Die plötzliche Freude als Krönung des Übrigen war zu viel für sie! Sagte ich nicht auch, daß es mich nicht wundern würde, wenn sie den Verstand verlöre? Alles in allem, ein höchst tragischer Fall, der Fall Renauld!

Doch die Dinge entwickelten sich nicht ganz nach dem Programm von Mademoiselle Marthe. Vor allem war Madame Renauld wach, da sie den Überfall erwartet hatte. Es kam zu einem Kampf. Aber Madame Renauld ist noch immer sehr schwach. Marthe Daubreuil ergreift die letzte Möglichkeit. Mit dem Selbstmord ist es vorbei, aber falls sie mit ihren starken Händen Madame Renauld zum Schweigen bringen und mittels ihrer seidenen Strickleiter durch das Fenster entkommen könnte, während wir noch von innen an der anderen Tür pochen, wenn es ihr gelänge, in die Villa Marguerite zurückzukehren, ehe wir wieder hinkamen, dann würde es schwerfallen, ihr irgend etwas nachzuweisen. Doch sie wurde mattgesetzt, zwar nicht durch Hercule Poirot, aber durch die kleine Akrobatin mit ihren eisernen Gelenken.«

Ich überdachte nochmals die ganze Geschichte. »Wann hattest du zuerst Verdacht auf Marthe Daubreuil? Als sie uns erzählte, daß sie den Streit im Garten belauscht habe?«

Poirot lächelte.

»Mein Freund, erinnerst du dich des Tages, an dem wir zum ersten Male in Merlinville einfuhren? Als das schöne Mädchen am Gittertor stand? Du fragtest mich, ob ich di? junge Göttin nicht bemerkt hätte, und ich antwortete, ich hätte nur ein junges Mädchen mit angstvollen Augen gesehen. So stand von allem Anfang an Marthe Daubreuil vor meinem geistigen Blick: als das Mädchen mit den angstvollen Augen! Nicht um Jack Renaulds willen, denn sie wußte damals nicht, daß er des Nachts in Merlinville gewesen war.«

»Übrigens«, rief ich, »wie geht es Jack Renauld?«

»Viel besser. Er ist noch in der Villa Marguerite. Doch Madame Daubreuil ist verschwunden. Die Polizei verfolgt sie.«

»Glaubst du, daß sie mit der Tochter im Einverständnis war?«

»Das werden wir nie erfahren. Denn sie ist eine Dame, die ihre Geheimnisse wohl bewahren kann. Und ich bezweifle sehr, daß die Polizei sie jemals finden wird.«

»Weiß - Jack Renauld schon alles?«

»Noch nicht.«

»Es wird ein furchtbarer Schlag für ihn sein.«

»Selbstverständlich. Und doch, Hastings, weißt du, es steigen mir Zweifel auf, ob sein Herz wohl jemals sehr beteiligt war. Bisher hielten wir immer Bella Duveen für die Verführte, und Marthe Daubreuil für das Mädchen, das er wirklich liebte. Aber ich denke, wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir die Rollen tauschen. Marthe Daubreuil war sehr schön. Sie legte es darauf an, Jack zu faszinieren, und es gelang ihr, aber erinnere dich seines merkwürdigen Widerstrebens, mit dem anderen Mädchen zu brechen. Und sieh, wie entschlossen er war, eher sein Leben aufs Spiel zu setzen, als sie in die Sache zu verwickeln. Ich habe die leise Vermutung, als werde er entsetzt - empört sein, wenn er die Wahrheit erfährt, daß er aber bald seine falsche Liebe überwunden haben dürfte.«

»Und Giraud?«

»Ach, der hat eine Nervenkrise und sah sich genötigt, nach Paris zurückzukehren.«

Nun lächelten wir beide.

Poirot erwies sich als Prophet. Als schließlich der Arzt Jack für genügend kräftig erklärte, die Wahrheit zu erfahren, übernahm es Poirot, sie ihm beizubringen. Die Wirkung war erschütternd. Doch Jack genas schneller, als ich dachte. Mutterliebe half ihm diese schweren Tage durchzuhalten. Mutter und Sohn waren nun unzertrennlich.

Noch eine andere Enthüllung stand bevor. Poirot hatte Mme. Renauld mitgeteilt, daß er um ihr Geheimnis wisse, und ihr Vorstellungen darüber gemacht, daß man Jack nicht in Unkenntnis von seines Vaters Vergangenheit lassen dürfe.

»Es ist nie von Nutzen, die Wahrheit zu verbergen, Madame! Seien Sie tapfer und sagen Sie ihm alles.«

Schweren Herzens entschloß sich Mme. Renauld, und der Sohn erfuhr, daß sein Vater, den er so sehr geliebt hatte, in Wirklichkeit ein Polizeiflüchtling gewesen war. Eine zögernde Frage wurde sofort von Poirot beantwortet:»Beruhigen Sie sich, Monsieur Jack. Die Welt weiß nichts davon. Soweit ich es beurteilen kann, liegt kein Grund für mich vor, die Polizei ins Vertrauen zu ziehen. Ich habe nicht ihr zuliebe, sondern um Ihres Vaters willen in diesen Fall eingegriffen. Die Gerechtigkeit erreichte ihn schließlich, aber niemand braucht es zu erfahren, daß er und Georges Conneau ein und derselbe waren.«

Der Polizei blieben natürlich verschiedene Punkte des Falles rätselhaft, doch Poirot erklärte die Dinge auf so logische Art, daß bald alle Zweifel schwanden.

Bald nach unserer Rückkehr nach London bemerkte ich eine wundervolle Skulptur, die Gestalt eines Spürhundes, auf Poirots Kamin. Er nickte, als er meinem fragenden Blick begegnete.

»Ich habe inzwischen mein Honorar bekommen! Ist er nicht ein prächtiger Kerl? Ich nenne ihn Giraud!«

Wenige Tage später hatten wir den Besuch von Jack Renauld. Mir fiel der entschlossene Ausdruck seines Gesichtes auf.