Der Kommissar hielt inne.
»Und die Hausgenossen, Monsieur?«
»Da ist die alte Francoise, die Haushälterin, die schon elf Jahre bei den früheren Besitzern der Villa Genevieve bedienstet war. Dann noch zwei junge Mädchen, Schwestern, Denise und Leonie Oulard. Sie stammen aus Merlinville, von hochachtbaren Eltern. Ferner der Chauffeur, den Monsieur
Renauld aus England mitbrachte, der aber beurlaubt und verreist ist. Endlich noch Madame Renauld und ihr Sohn, Monsieur Jack Renauld. Aber auch er ist zur Zeit abwesend.«
Poirot nickte. Monsieur Hautet rief: »Marchaud!«
Der Gendarm trat ein.
»Holen Sie Francoise.«
Der Mann salutierte und verschwand. Kurz darauf kehrte er mit der erschreckten Francoise wieder.
»Sie heißen Francoise Arrielet?«
»Ja, Monsieur.«
»Dienen Sie schon lange in der Villa Genevieve?«
»Erst elf Jahre bei Madame la Vicomtesse. Dann, als sie in diesem Frühling die Villa verkaufte, willigte ich ein, bei dem englischen ,Milor' zu bleiben. Nie hätte ich mir vorgestellt -«
»Das wissen wir. Nun, Francoise, kommen wir zum Haupteingang; wer hatte ihn abends zu schließen?«
»Ich, Monsieur. Das war immer mein Amt.«
»Und gestern abend?«
»Schloß ich wie gewöhnlich ab.«
»Sind Sie dessen ganz gewiß?«
»Ich schwöre es bei allen Heiligen, Monsieur.«
»Wie spät mag es gewesen sein?«
»So spät wie immer, halb elf, Monsieur.«
»Und die übrigen Hausbewohner? Waren sie alle zu Bett gegangen?«
»Madame hatte sich kurz vorher zurückgezogen. Denise und Leonie gingen mit mir hinauf. Monsieur war noch in seinem Arbeitszimmer.«
»Also, wenn späterhin jemand die Tür öffnete, konnte es nur Monsieur Renauld selbst gewesen sein?«
Francoise zuckte ihre breiten Schultern.
»Wozu sollte er dies getan haben? Wo jeden Augenblick Räuber und Mörder vorbeikamen! Ein schöner Einfall! Monsieur war kein Dummkopf. Es sei denn, er habe die Dame hinauslassen wollen -«
Der Richter unterbrach sie scharf: »Die Dame? Welche Dame meinen Sie?«
»Nun, die Dame, die ihn besucht hatte.«
»Hatte er gestern abend Damenbesuch?«
»Aber ja, Monsieur - und an vielen anderen Abenden doch auch.«
»Wer war sie? Kennen Sie sie?«
Das Antlitz der Frau nahm einen schlauen Ausdruck an.
»Woher sollte ich wissen, wer sie war?« brummte sie. »Ich ließ sie gestern abend nicht herein.«
»Oh!« brüllte der Untersuchungsrichter. und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie wollen sich wohl einen Scherz mit der Polizei erlauben! Ich verlange, daß Sie mir sofort den Namen der Dame nennen, die immer am Abend zu Monsieur Renauld kam.«
»Die Polizei - die Polizei«, brummte Francoise. »Ich hätte nie gedacht, daß ich es mal mit der Polizei zu tun bekommen könnte. Aber ich weiß genau, wer sie war! Madame Daubreuil.«
Dem Kommissar entfuhr ein Laut des Staunens und er beugte sich ungläubig vor.
»Madame Daubreuil - aus der Villa Marguerite, unten an der Straße?«
»So ist es, Monsieur. Oh, die hat es hinter den Ohren! Und die alte Frau warf entrüstet den Kopf zurück. »Madame Daubreuil«, flüsterte der Kommissar. »Unmöglich.«
»Da haben wir's!« brummte Francoise. »Das hat man davon, wenn man die Wahrheit sagt.«
»Durchaus nicht«, beschwichtigte der Untersuchungsrichter. »Wir sind nur erstaunt, das ist alles. Dann waren Madame Daubreuil und Monsieur Renauld -« taktvoll hielt er inne. »Wie? Das war es doch ohne Zweifel?«
»Woher sollte ich das wissen? Aber was wollen Sie, Monsieur? Er war ,Milor' anglais, - tres riche - und Madame Daubreuil ist arm - und tres chic - obwohl sie mit ihrer Tochter so zurückgezogen lebt. Kein Zweifel, sie hat eine Vergangenheit! Sie ist nicht mehr jung, aber ... Ich sage Ihnen, ich sah oft, wie die Männer ihr nachblickten, wenn sie die Straße herunterkam. Außerdem gab sie jetzt viel mehr Geld aus - das weiß die ganze Stadt. Ihre kleinen Ersparnisse waren zu Ende.« Und Francoise nickte heftig voll unerschütterlicher Überzeugung. M. Hautet strich sinnend seinen Bart.
»Und Madame Renauld?« fragte er schließlich. »Wie verhielt sie sich zu dieser - Freundschaft?«
Francoise zuckte mit den Achseln..
»Sie war immer sehr liebenswürdig, sehr höflich. Es sah so aus, als ob sie nichts ahnte. Aber trotzdem - nicht wahr? -blutet das Herz, Monsieur. Ich sah, wie sie täglich blasser und magerer wurde. Sie war nicht mehr die gleiche Frau, die einen Monat früher hier angekommen war. Auch Monsieur hatte sich verändert. Auch er hatte seine Sorgen. Das war deutlich zu sehen. Und wer könnte sich schließlich darüber wundern? Keine Diskretion, kein Takt. Englische Mode, zweifellos!«
Entrüstet fuhr ich von meinem Sessel auf, während der Untersuchungsrichter unbeirrt sein Verhör fortsetzte.
»Sie behaupten, daß Monsieur Renauld Madame Daubreuil nicht hinausließ? Sie war also schon fort?«
»Ja, Monsieur. Ich hörte sie aus dem Arbeitszimmer herauskommen und zur Tür gehen. Monsieur sagte ,Gute Nacht' und schloß hinter ihr die Tür.«
»Wie spät war es da?«
»Ungefähr fünfundzwanzig Minuten nach zehn, Monsieur.«
»Wissen Sie, wann Monsieur Renauld zu Bett ging?«
»Ich hörte, daß er zehn Minuten nach uns heraufkam. Die Treppen knarren so, daß man jeden hört, der hinauf oder hinab geht.«
»Und ist das alles? Hörten Sie die ganze Nacht kein störendes Geräusch mehr?«
»Nicht das geringste, Monsieur.«
»Welches der Mädchen kam heute zuerst herunter?«
»Ich, Monsieur. Ich sah sofort, daß die Tür nur angelehnt war.«
»Wie verhielt es sich mit den ebenerdigen Fenstern? Waren sie alle verschlossen?«
»Alle. Es war sonst nichts in Unordnung oder sonstwie verdächtig.«
»Gut, Francoise, Sie können gehen.«
Die alte Frau humpelte zur Tür. Auf der Schwelle blickte sie zurück.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Monsieur. Diese Madame Daubreuil ist eine schlechte Person. O ja, eine Frau kennt die andere. Sie ist eine schlechte Person, vergessen Sie das nicht.«
Francoise schüttelte weise ihr Haupt und verließ den Raum.
»Leonie Oulard«, rief der Richter.
Leonie erschien in Tränen aufgelöst und bekam fast einen Weinkrampf.
M. Hautet behandelte sie sehr geschickt. Ihre Aussage betraf hauptsächlich die Auffindung ihrer geknebelten und gefesselten Herrin, und sie gab davon einen recht übertriebenen Bericht. Sie hatte ebenso wie Francoise des Nachts keinerlei Geräusch gehört.
Dann folgte Denise, ihre Schwester. Auch sie stellte fest, daß ihr Gebieter sich in der letzten Zeit sehr verändert hatte.
»Jeden Tag wurde er mürrischer. Er aß weniger. Er war immer so niedergeschlagen.« Aber Denise hatte darüber ihre eigene Ansicht. »Zweifellos war ihm die Maffia auf den Fersen. Zwei maskierte Männer - was konnte es sonst gewesen sein? Eine fürchterliche Bande!«
»Das ist natürlich möglich«, sagte der Untersuchungsrichter ruhig. »Und nun, Denise, haben Sie gestern abend Madame Daubreuil hereingelassen?«
»Gestern abend nicht, Monsieur, vorgestern.«
»Aber Francoise erzählte uns eben, daß Madame Daubreuil gestern abend dagewesen sei?«
»Nein, Monsieur. Es kam wohl gestern abend eine Dame zu Monsieur Renauld, doch es war nicht Madame Daubreuil.«
Überrascht forschte der Richter weiter, aber das Mädchen blieb fest. Vom Sehen kannte sie Madame Daubreuil genau. Diese Dame war zwar auch dunkelhaarig, aber kleiner und viel jünger. Nichts konnte ihre Behauptung erschüttern.