»Hatten Sie diese Dame jemals vorher gesehen?«
»Niemals, Monsieur.« Und dann fügte das Mädchen schüchtern hinzu: »Ich glaube, sie war Engländerin.«
»Engländerin?«
»Ja, Monsieur. Sie fragte in ganz gutem Französisch nach Monsieur Renauld, aber man erkennt den Akzent sofort, selbst wenn er kaum merklich ist. Außerdem sprachen sie englisch, als sie aus dem Arbeitszimmer kamen.«
»Hörten Sie, was sie sagten? Konnten Sie es verstehen, meine ich?«
»Ich spreche sehr gut Englisch«, sagte Denise stolz. »Die Dame sprach zu schnell, da konnte ich nichts von dem auffangen, was sie sagte, aber ich hörte Monsieurs letzte Worte, als er ihr die Tür aufschloß.« Sie hielt inne und wiederholte mühevolclass="underline" »Yes, yes - but for Heavens sake go now!«
»Ja, ja, aber gehen Sie jetzt, um Gottes willen!« wiederholte der Richter.
Er entließ Denise, dachte noch ein paar Sekunden nach und rief Francoise wieder herein. Er legte ihr die Frage vor, ob sie sich nicht geirrt haben könne, als sie den Abend von Madame Daubreuils letztem Besuch feststellte. Ganz unerwarteterweise blieb Francoise hartnäckig dabei, Madame Daubreuil sei am letzten Abend ins Haus gekommen. Ohne jeden Zweifel sei sie dagewesen. Denise wolle sich nur interessant machen, voila tout. Darum habe sie dies schöne Märchen von der fremden Dame ausgedacht. Vielleicht auch, um mit ihren englischen Kenntnissen zu prahlen! Wahrscheinlich habe Monsieur niemals diesen Satz in englischer Sprache gesagt, und selbst wenn er es getan hätte, beweise das nichts, da Madame Daubreuil ausgezeichnet Englisch spreche und sich im Verkehr mit Monsieur und Madame Renauld dieser Sprache meistens bedient habe. »Sehen Sie, Monsieur Jack, der Sohn von Monsieur, war gewöhnlich dabei, und er spricht sehr schlecht Französisch.«
Der Richter drang nicht weiter in sie. Statt dessen erkundigte er sich nach dem Chauffeur und erfuhr, daß Mr. Renauld erst gestern erklärt habe, daß er vermutlich den Wagen nicht benötigen werde und daß Masters daher ebensogut einen freien Tag haben könne.
Poirot war darüber einigermaßen verblüfft.
»Was hast du denn?« flüsterte ich.
Er schüttelte ungeduldig den Kopf und fragte: »Verzeihung, Monsieur Bex, aber Monsieur Renauld konnte wohl seinen Wagen selbst lenken?«
Der Kommissar blickte zu. Francoise hinüber, und die alte Frau antwortete prompt: »Nein, Monsieur fuhr nie allein.«
Poirot zog die Stirn in ernste Falten.
»Ich wollte, du würdest mir erklären, was dir im Kopf herumgeht«, sagte ich ungeduldig.
»Merkst du denn nichts? Monsieur Renauld spricht in seinem Brief davon, uns den Wagen nach Calais entgegenzuschicken.«
»Vielleicht meinte er einen Mietwagen«, warf ich ein.
»Möglich. Aber wozu einen Wagen mieten, wenn man einen eigenen besitzt? Weshalb gerade dem Chauffeur den gestrigen Tag freigeben - plötzlich, in momentaner Eingebung.
Wollte er ihn vielleicht aus irgendeinem Grunde aus dem Wege schaffen, ehe wir kamen?«
4
Francoise hatte das Zimmer verlassen. Der Untersuchungsrichter trommelte nachdenklich mit den Fingern auf dem Tisch.
»Monsieur Bex«, sagte er endlich, »hier liegen direkt widersprechende Zeugenaussagen vor. Wem ist nun zu glauben, Francoise oder Denise?«
»Denise«, sagte der Kommissar entschieden. »Sie war es, die die Besucherin einließ. Francoise ist alt und eigensinnig und hat eine ausgesprochene Abneigung gegen Madame Daubreuil. Außerdem wissen wir doch selbst genau, daß M. Renauld noch in eine andere Liebschaft verwickelt war.«
»Richtig!« rief Hautet. »Wir vergaßen, Monsieur Poirot davon Mitteilung zu machen.« Er durchstöberte die Papiere auf dem Tisch und reichte meinem Freunde schließlich das Gesuchte: »Diesen Brief, Monsieur Poirot, fanden wir in der Manteltasche des Verstorbenen.«
Poirot nahm und entfaltete ihn. Er war abgegriffen, zerknittert und in englischer Sprache mit ungelenker Hand geschrieben.
»Mein Liebster!
Warum hast Du mir so lange nicht geschrieben? Du liebst mich doch noch, nicht wahr? Deine Briefe waren in letzter Zeit so anders, so kalt und sonderbar, und jetzt dieses lange Schweigen. Ich habe Angst. Wenn Du aufgehört hättest, mich zu lieben! Aber das ist unmöglich - was bin ich doch für ein närrisches Ding, daß ich mir solche Sachen einbilde! Aber wenn Du aufgehört hättest, mich zu lieben, weiß ich nicht, was ich anfangen sollte - vielleicht würde ich mich umbringen! Ohne Dich könnte ich nicht leben. Manchmal bilde ich mir ein, es habe eine andere Frau sich zwischen uns gedrängt. Sie soll sich in acht nehmen - und Du auch! Bevor ich Dich ihr lasse, töte ich sie. Ich meine es ernst.
Aber was schreibe ich für Unsinn! Du liebst mich, und ich liebe Dich - ja, ich liebe Dich, ich liebe Dich, ich liebe Dich!
Immer Deine
Bella.«
Datum und Adresse fehlten. Mit ernstem Gesicht gab Poirot den Brief zurück.
»Und was vermuten Sie?«
Der Untersuchungsrichter zuckte die Achseln. »Augenscheinlich war Monsieur Renauld in eine Liebschaft mit dieser Engländerin - Bella - verwickelt. Er kommt hierher, begegnet Madame Daubreuil und verliebt sich in sie. Seine Gefühle für die andere kühlen ab, und sie schöpft Verdacht. Dieser Brief enthält eine deutliche Drohung, Monsieur; zuerst schien der Fall sonnenklar. Ein Eifersuchtsdrama! Die Tatsache, daß Monsieur Renauld von rückwärts erstochen wurde, spricht deutlich dafür, daß das Verbrechen von einer Frau begangen worden sein muß.«
Poirot nickte. »Der Stich in den Rücken wohl, doch nicht das Grab! Das war mühselige Arbeit, harte Arbeit - keine Frau grub jenes Grab, Monsieur. Das war das Werk eines Mannes.«
Der Kommissar rief erregt: »Ja, ja, Sie haben recht. Daran dachten wir nicht.«
»Wie ich sagte«, fuhr Monsieur Hautet fort, »schien der Fall äußerst einfach, aber die maskierten Männer und der Brief; den Sie von Monsieur Renauld erhielten, verwickeln die Angelegenheit. Wir haben es offenbar hier mit einer Reihe ganz verschiedener Umstände zu tun, zwischen denen keinerlei Zusammenhang besteht. Was den Brief anbelangt, den Sie erhielten, glauben Sie, daß er sich auf ,Bella' und ihre Drohungen bezieht?«
Poirot schüttelte den Kopf. »Kaum. Ein Mann wie Monsieur Renauld, der ein abenteuerliches Leben in den entlegensten Gegenden hinter sich hat, dürfte wohl nicht um Schutz gegen eine Frau ersuchen.«
Beifällig nickte der Untersuchungsrichter. »Ganz meine Ansicht. Dann müssen wir die Erklärung für diesen Brief -«
»In Santiago suchen«, bemerkte der Kommissar. »Ich will unverzüglich an die dortige Polizei kabeln und ausführlichen Bericht über das Leben erbitten, das der Verstorbene in jener Stadt führte, über seine Liebesabenteuer, seine geschäftlichen Transaktionen, seine Freundschaften und über etwaige Feindschaften, die er sich dort zugezogen haben mag. Es müßte verwunderlich sein, wenn wir dort nicht den Schlüssel zu seiner geheimnisvollen Ermordung finden sollten.« Beifallheischend blickte der Kommissar um sich.
»Ausgezeichnet!« stimmte Poirot zu.
»Auch seine Frau könnte uns einen Fingerzeig geben«, sagte der Richter.
»Fanden Sie sonst keine Briefe jener Bella unter Monsieur Renaulds Habseligkeiten?« fragte Poirot.
»Nein. Natürlich durchsuchten wir gleich am Anfang im Arbeitszimmer alle seine Briefschaften. Wir fanden jedoch nichts Interessantes. Alles schien in bester Ordnung. Das einzige Außergewöhnliche war sein Testament. Hier ist es.«
Poirot durchflog das Schriftstück.
»So? Ein Legat von tausend Pfund an einen Mr. Stonor -wer ist das übrigens?«
»Monsieur Renaulds Sekretär. Er blieb in England, kam aber ein- bis zweimal zum Wochenende.«
»Und alles übrige vermachte er bedingungslos seiner geliebten Gattin Eloise. Einfach niedergeschrieben, aber vollkommen gesetzmäßig. Von den zwei Dienerinnen Denise und Francoise als Zeuginnen unterfertigt. Daran ist gar nichts Ungewöhnliches.« Er gab es zurück.