»Vielleicht«, begann Bex, »bemerkten Sie nicht -«
»Das Datum?« zwinkerte Poirot. »Doch, ich bemerkte es. Es liegt vierzehn Tage zurück. Möglicherweise bezeichnet es die erste Andeutung der Gefahr. Manch reicher Mann stirbt ohne Testament, weil er nie die Möglichkeit seines Ablebens in Betracht gezogen hatte. Aber es ist gefährlich, vorzeitige Schlüsse zu ziehen. Nichtsdestoweniger beweist es uns, daß er trotz seiner Liebesabenteuer mit wirklicher Zuneigung und Verehrung an seiner Gattin hing.«
»Ja«, gab Hautet zögernd zu. »Aber vielleicht ist es auch ein wenig unfair gegen seinen Sohn, daß er ihn in völliger Abhängigkeit von seiner Mutter zurückläßt. Sollte sie nochmals heiraten und ihr zweiter Gatte bestimmenden Einfluß auf sie gewinnen, könnte es geschehen, daß dem Jungen kein Pfennig von seines Vaters Vermögen bliebe.«
Poirot zuckte die Achseln.
»Die Menschen sind eitel. Monsieur Renauld bildete sich sicher ein, daß seine Witwe niemals wieder heiraten werde. Und was den Sohn betrifft, war es vielleicht weise Vorsicht, das Geld den Händen der Mutter anzuvertrauen. Die Söhne reicher Väter sind von sprichwörtlichem Leichtsinn.«
»Sie mögen recht haben. Und nun, Monsieur Poirot, wollen Sie wohl zweifellos den Schauplatz des Verbrechens besichtigen. Es tut mir leid, daß der Leichnam bereits fortgebracht wurde, aber selbstverständlich sind von jedem denkbaren Winkel fotografische Aufnahmen gemacht worden, die zu Ihrer Verfügung stehen, sobald sie fertig sind.«
»Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen, Monsieur.«
Der Kommissar erhob sich.
»Folgen Sie mir, meine Herren.«
Er öffnete die Tür und forderte Poirot durch eine formelle Verbeugung auf, vorauszugehen. Poirot blieb mit gleicher Höflichkeit zurück und ließ dem Kommissar den Vortritt.
Endlich gelangten sie in die Halle.
»Der Raum dort ist das Arbeitszimmer, nicht wahr?« fragte Poirot unvermittelt, indem er auf die gegenüberliegende Tür wies.
»Ja, wollen Sie es besichtigen?« Er stieß während des Sprechens die Tür auf, und wir traten ein.
Das Zimmer, das Monsieur Renauld zum persönlichen Gebrauch gewählt hatte, war klein, aber mit erlesenem Geschmack und großer Behaglichkeit eingerichtet. Ein Kanzlei-Schreibtisch mit vielen Fächern stand neben dem Fenster. Zwei große lederne Klubsessel standen dem Kamin gegenüber, zwischen ihnen ein runder Tisch, der mit Büchern und Zeitschriften bedeckt war. Bücherregale füllten zwei Wände, und am Ende des Zimmers, dem Fenster gegenüber, befand sich ein schönes Büfett aus Eichenholz mit einem Likörständer. Vorhänge und Portiere waren aus weicher, mattgrüner Seide und die Farben des Teppichs dazu abgetönt.
Einen Augenblick lang verharrte Poirot und ließ den Raum auf sich wirken. Dann schritt er weiter, fuhr mit der Hand leicht über die Lehnen der Lederstühle, nahm vom Tisch eine Zeitschrift auf und berührte mit dem Finger bedächtig die Oberfläche des Eichenbüfetts. Sein Gesicht drückte vollkommene Billigung aus.
»Kein Staub?« fragte ich lächelnd.
Anerkennend lächelte er mir zu, weil ich seine Eigenheiten so gut kannte.
»Nein, kein Körnchen, mon ami! Und einesteils ist das vielleicht bedauerlich!«
Seine scharfen Vogelaugen spähten da- und dorthin.
»Ah!« bemerkte er plötzlich erleichtert. »Der Ofenvorleger ist verschoben«, und er bückte sich, um ihn in Ordnung zu bringen.
Plötzlich stieß er einen Laut aus und erhob sich. Er hielt ein kleines rosenfarbenes Stück Papier in der Hand.
»In Frankreich wie in England«, bemerkte er, »verabsäumt die Dienerschaft, unter den Teppichen hervorzukehren.«
Bex nahm das Papierstückchen, und ich trat näher.
»Erkennst du es, Hastings?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf - und doch war mir die eigentümliche Schattierung des rosenfarbenen Papiers sehr vertraut.
Der Kommissar leistete schnellere Gedankenarbeit als ich.
»Die Ecke eines Schecks«, rief er aus.
Das Stück Papier war keine zwei Quadratzentimeter groß. Mit Tinte stand das Wort »Duveen« darauf geschrieben.
»Ausgezeichnet«, sagte Bex. »Dieser Scheck war zahlbar an oder ausgestellt von einer Person namens Duveen.«
»Das erstere nehme ich an«, sagte Poirot, »denn wenn ich nicht irre, ist dies Monsieur Renaulds Handschrift.«
Dies wurde durch Vergleich mit einem Notizblock vom Schreibtisch bald festgestellt.
»Mein Gott«, sagte der Kommissar bestürzt, »ich begreife gar nicht, wie ich dies übersehen konnte.«
Poirot lachte.
»Die Moral davon ist, man soll immer unter die Teppiche schauen! Mein Freund Hastings wird bestätigen, daß mich die geringste Unordnung zur Verzweiflung bringt. Als ich sah, daß der Ofenvorleger schief lag, sagte ich mir sofort: ,Halt! Das geschah durch den Fuß des Sessels, als dieser zurückgestoßen wurde. Vielleicht wäre etwas darunter zu finden, was die gute Francoise übersah.'«
»Francoise?«
»Oder Denise, oder Leonie. Wer eben das Zimmer aufräumte. Da nirgends Staub liegt, muß das Zimmer heute früh aufgeräumt worden sein. Ich glaube, der Vorgang spielte sich folgendermaßen ab: Gestern, vielleicht in der Nacht, stellte Monsieur Renauld . einen Scheck aus, der für jemanden, namens Duveen, bestimmt war. Später wurde er zerrissen und zu Boden geworfen. Heute früh -«
Aber Monsieur Bex läutete bereits ungeduldig.
Francoise kam herein. Ja, es hätten zahlreiche Papierstücke auf dem Boden gelegen. Sie habe sie in den Küchenherd gesteckt.
Mit verzweifelter Miene entließ sie Bex.
Dann heiterten sich seine Züge auf, er lief zum Schreibpult. In einer Minute durchflog er das Scheckbuch des Ermordeten. Dann wiederholte sich seine frühere Verzweiflungsmiene. Der letzte Kontrollzettel war leer.
»Mut«, rief Poirot und klopfte ihm auf die Schulter. »Zweifellos wird uns Madame Renauld alles Nähere über die geheimnisvolle Person, die Duveen heißt, sagen können.«
Das Gesicht des Kommissars hellte sich auf. »Das ist wahr. Fahren wir fort.«
Als wir das Zimmer verlassen wollten, sagte Poirot beiläufig: »Hier hat wohl Monsieur Renauld gestern abend seinen Besuch empfangen, nicht wahr?«
»Ja, - aber woher wissen Sie es?«
»Durch dies hier. Ich fand es auf der Lehne des Ledersessels.« Und er hielt zwischen Daumen und Zeigefinger, ein langes schwarzes Haar - ein Frauenhaar -!
Monsieur Bex führte uns durch den Hinterausgang zu einem kleinen Schuppen, der an die Hauswand stieß. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte auf.
»Hier liegt der Leichnam. Wir hatten ihn eben vom Tatort weggeschafft, als Sie kamen, nachdem die Fotografen ihre Aufnahmen gemacht hatten,«
Er öffnete die Tür, und wir traten ein. Der Ermordete lag auf der Erde, von einem Laken bedeckt.
Bex streifte die Decke zurück. Renauld war ein mittelgroßer Mann, von schlanker, geschmeidiger Gestalt. Er sah aus wie ein Fünfziger, und sein dunkles Haar war schon stark von grauen Fäden durchzogen. Er war glattrasiert, hatte eine lange dünne Nase, und seine Augen standen ziemlich nahe beieinander. Seine Haut wies jene tiefe Bronzefärbung auf, wie sie Menschen eigen ist, die den größten Teil ihres Lebens in Tropenländern verbrachten. Zwischen den halbgeöffneten Lippen sahen die Zähne hervor, und auf den leblosen Zügen lag es wie Schrecken und Staunen.
»An seinem Gesicht ist zu erkennen, daß er von rückwärts erstochen wurde«, bemerkte Poirot.
Sehr behutsam drehte er den Toten um. Da, zwischen den Schulterblättern, färbte ein runder dunkler Fleck den hellen Mantel. Inmitten des Flecks war ein kleiner Riß im Stoff.
»Haben Sie eine Ahnung, mit was für einer Waffe das Verbrechen verübt wurde?«
»Sie steckte in der Wunde.« Der Kommissar holte einen großen Glaskrug herunter, in dem sich ein kleiner Gegenstand befand, der am ehesten einem Papiermesser glich. Es hatte einen schwarzen Griff und eine schwach glänzende Klinge. Das ganze Ding war nicht länger als zehn Zoll Poirot prüfte bedächtig die fleckige Spitze mit dem Finger. »Verteufelt scharf! Ein hübsches, leichtes, kleines Mordinstrument.«