Nachdem Monsieur Aono zur Genüge gelächelt hatte, leistete er sich wieder das gewohnte Stückchen, von dem es seinen Tischnachbarn immer ganz übel wurde: Er schneuzte geräuschvoll in eine Papierserviette, knüllte sie zusammen und legte das nasse Päckchen sorgsam auf seinem schmutzigen
Teller ab. Mochten sich die anderen am Anblick dieser Ikebana erbauen. Von Ikebana hatte Renate bei Pierre Loti gelesen, und das wohlklingende Wort war ihr haftengeblieben. Interessante Idee, Blumensträuße nicht einfach so zu binden, sondern mit philosophischem Sinn. Sie müßte es mal probieren.
»Welche Blumen mögen Sie?« fragte sie Doktor Truffo.
Er übersetzte die Frage seiner Schreckschraube, dann antwortete er: »Stiefmütterchen.«
Und er übersetzte auch die Antwort: »Pansies.«
»Ich vergöttere Blumen!« rief Miss Stomp (die sich als jugendliche Naive aufspielte). »Aber nur lebendige. Wie gern gehe ich über eine Blumenwiese! Es zerreißt mir das Herz, wenn ich sehe, wie die armen Schnittblumen welken und ihre Blütenblätter verlieren! Darum lasse ich mir auch von niemandem Blumen schenken.« Schmachteblick auf den schönen Russen.
Welch ein Jammer, sonst würden sie dich bestimmt mit Sträußen zuschütten, dachte Renate, laut aber sagte sie: »Ich finde, Blumen sind die Krönung von Gottes Schöpfung, und eine blühende Wiese zu zertrampeln ist ein Verbrechen.«
»In den Parkanlagen von Paris gilt es auch als Verbrechen«, verlautbarte Monsieur Coche. »Es kostet zehn Francs Strafe. Und wenn die Damen einem alten Flegel gestatten wollen, seine Pfeife zu rauchen, möchte ich Ihnen ein spannendes Geschichtchen zu diesem Thema erzählen.«
»Oh, meine Damen, üben Sie Nachsicht!« rief der bebrillte Indologe Sweetchild und schüttelte sein Disraeli-Bärtchen. »Monsieur Coche ist ein fabelhafter Erzähler.«
Alle wandten sich der schwangeren Renate zu, die das letzte Wort hatte, und sie rieb sich vielsagend die Schläfe. Nein, Kopfschmerzen hatte sie nicht, es machte ihr nur Spaß, den angenehmen Moment zu verlängern. Aber das »Ge- schichtchen« wollte sie auch gern hören, darum nickte sie mit Leidensmiene.
»Gut, rauchen Sie nur. Aber dann soll mir jemand Luft zufächeln.«
Da die garstige Clarissa, die einen üppigen Fächer aus Straußenfedern besaß, so tat, als ginge es sie nichts an, mußte der Japaner das übernehmen. Gintaro Aono setzte sich neben die Leidende und fuchtelte ihr mit seinem Fächer voller bunter Schmetterlinge so eifrig vor der Nase herum, daß ihr bald schwindlig wurde von dem Farbengeflirre. Der Japaner bezog für seinen Übereifer einen Verweis.
Coche nahm mit Genuß einen Zug, stieß ein Wölkchen duftenden Qualms aus und begann seine Erzählung: »Ob Sie’s glauben oder nicht, aber dies ist eine wahre Geschichte. Im Jardin du Luxembourg arbeitete ein Gärtner, der alte Picard. Vierzig Jahre lang goß und pflegte er Blumen, und bis zur Pensionierung hatte er nur noch drei Jahre. Eines Morgens kam er mit seiner Gießkanne in den Park, da sah er auf einem Tulpenbeet einen schicken Herrn mit Frack liegen. Der Mann hatte es sich in der Morgensonne bequem gemacht und lag behaglich da. Er mußte wohl ein Nachtschwärmer sein, der bis in den Morgen gezecht, es nicht bis nach Hause geschafft und hier schlappgemacht hatte.« Coche kniff ein Auge ein und maß die Anwesenden mit verschmitztem Blick. »Picard wurde natürlich böse, seine Tulpen waren zerdrückt, und er sagte: Stehen Sie auf, Monsieur, in unserm Park darf man nicht auf den Beeten liegen. Dafür kassieren wir zehn Francs Strafe.< Der Nachtschwärmer öffnete ein Auge und holte ein Goldstück hervor. >Nimm, Alter, und laß mich in Ruhe. Ich habe lange nicht so schön geruht.< Na, der Gärtner nahm das Geld, ging aber nicht weg. >Die Strafe haben Sie bezahlt, aber ich darf Sie trotzdem nicht hier liegen lassen. Stehen Sie bitte auf.< Da öffnete der Herr im Frack auch sein zweites Auge, hatte es aber nicht eilig, sich zu erheben. > Wieviel muß ich berappen, damit du mir aus der Sonne gehst? Ich zahle jeden Preis, wenn du mich hier ein Stündchen schlummern läßt.< Picard kratzte sich den Hinterkopf, rechnete, bewegte die Lippen. >Gut<, sagte er, >wenn Sie ein Liegestündchen in einem Beet des Jardin du Luxembourg erwerben wollen, kostet es Sie vierundachtzigtausend Francs und keinen Sou weniger.<« Der Kommissar lachte vergnügt und schüttelte den Kopf, gleichsam hingerissen von der Frechheit des Gärtners. »Nicht einen Sou weniger, soso. Nun muß ich Ihnen aber sagen, der beschwipste Herr war nicht irgendwer, sondern der Bankier Laffitte, der reichste Mann von Paris. Der redete nicht in den Wind, er hatte gesagt >jeden Preis<, und das galt. Er hätte es als schmählich empfunden, zu kneifen und sein Bankierswort zurückzunehmen. Aber einem hergelaufenen Frechling solch eine Summe zu geben hatte er auch keine Lust. Was tun?« Coche zuckte die Achseln, um die knifflige Lage des Bankiers zu illustrieren. »Laffitte sagt also: >Na schön, du alter Spitzbube, du sollst deine vierundachtzigtausend haben, aber unter einer Bedingung: Beweise mir, daß ein Schlummerstündchen auf deinem schäbigen Beet tatsächlich diesen Betrag wert ist. Wenn du das nicht kannst, stehe ich jetzt auf und verbleue dich mit meinem Stock, dann komme ich wegen geringfügigem Rowdytum mit vierzig Francs Strafe davon.<« Der bescheuerte Milford-Stokes lachte laut und schüttelte begeistert seine rötliche Mähne, Coche aber hob den gelbgeräucherten Finger: Freu dich nicht zu früh, es ist noch nicht zu Ende. »Und was meinen Sie, meine Damen und
Herren? Der alte Picard, kein bißchen verlegen, rechnete vor: >In einer halben Stunde, punkt acht, kommt der Herr Direktor des Parks, sieht Sie in dem Beet liegen und brüllt mich an, ich soll Sie wegbringen. Das kann ich aber nicht, denn Sie haben nicht für eine halbe, sondern für eine ganze Stunde bezahlt. Ich streite also mit dem Herrn Direktor, da jagt er mich aus dem Dienst, ohne Entschädigung und Pension. Dabei habe ich nur noch drei Jahre bis zur Pensionierung. Die Pension beträgt tausendzweihundert Francs im Jahr. Mein Leben im Ruhestand veranschlage ich auf zwanzig Jahre, macht vierundzwanzigtausend Francs. Aus der Dienstwohnung wird man uns raussetzen, meine Alte und mich. Wo soll ich dann wohnen? Ich muß ein Haus kaufen. Ein bescheidenes Häuschen mit Garten irgendwo an der Loire kostet mindestens zwanzigtausend. Und jetzt, mein Herr, denken Sie auch mal an meine Reputation. Vierzig Jahre habe ich in diesem Park auf Treu und Glauben meine Arbeit getan, und jeder wird sagen, daß Picard ein redlicher Mensch ist. Und nun solche Schande auf mein graues Haupt. Das ist ja Schmiergeld, Bestechung! Ich finde, für jedes Jahr untadeligen Dienstes sind tausend Francs nicht zuviel als moralischer Ausgleich. Insgesamt ergibt das vierundachtzigtausend.< Laffitte lachte, streckte sich behaglich auf dem Beet aus und schloß wieder die Augen. >Komm in einer Stunde<, sagte er. >Da kriegst du dein Geld, alter Affe.< Ist das nicht eine hübsche Geschichte, meine Damen und Herren?«
»Also t-tausend Francs für ein untadeliges Jahr?« sagte der russische Diplomat auflachend. »Ein bißchen wenig. Wahrscheinlich Mengenrabatt.«
Die Anwesenden erörterten lebhaft die Geschichte und äußerten durchaus gegensätzliche Meinungen, Renate aber starrte neugierig Monsieur Coche an, der mit zufriedener Miene seine schwarze Mappe aufschlug, an der erkalteten Schokolade nippte und mit Papieren raschelte. Ein Original, dieser Opa. Was mochte er da für Geheimnisse haben? Warum hielt er den Ellbogen drüber?
Diese Frage ließ Renate keine Ruhe. Ein paarmal versuchte sie, Coche über die Schulter zu linsen, aber der boshafte Rentier klappte die Mappe unverfroren vor ihrer Nase zu und drohte ihr sogar mit dem Finger - nicht doch.