Aber heute geschah etwas Bemerkenswertes. Als Monsieur Coche wie üblich vor den anderen aufstand, entglitt seiner geheimnisvollen Mappe ein Blatt und segelte still zu Boden. Der Rentier bemerkte es nicht; in unfrohe Gedanken vertieft, verließ er den Salon. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, schnellte Renate vom Stuhl hoch. Aber sie war nicht die einzige mit guter Beobachtungsgabe. Die wohlerzogene Miss Stomp, so eine Fixe, erreichte das Blatt als erste.
»Ach, Monsieur Coche hat wohl was verloren!« rief sie, hob rasch das Papier auf und bohrte die scharfen Augen hinein. »Ich bring’s ihm.«
Aber Madame Kleber hatte schon mit zähen Fingern zugeschnappt und dachte nicht daran, loszulassen.
»Was ist es?« fragte sie. »Ein Zeitungsausschnitt? Wie interessant!«
Im nächsten Moment umstanden alle Anwesenden die beiden Damen, nur der stoische Japaner wedelte noch immer mit seinem Fächer, und Mrs. Truffo beäugte indigniert dieses ungehörige Eindringen in die Privatsphäre eines anderen.
Der Zeitungsausschnitt beinhaltete folgendes:
DAS VERBRECHEN DES JAHRHUNDERTS: EINE NEUE WENDE?
Die teuflische Ermordung von zehn Menschen in der Rue de Grenelle bewegt weiterhin die Gemüter der Pariser Bürger. Bislang gab es hauptsächlich zwei Theorien: die von einem manisch besessenen Arzt und die von einer Sekte blutgieriger fanatischer Hindus, Anhängern des Gottes Schiwa. Aber wir vom »Soir« haben unabhängige Recherchen angestellt und konnten einen Umstand ermitteln, der möglicherweise dem Fall eine Wende gibt. Wie wir herausfanden, wurde der verstorbene Lord Littleby in den letzten Wochen mindestens zweimal in Gesellschaft der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond gesehen, die der Polizei in vielen Ländern bestens bekannt ist. Der Baron de M. ein enger Freund des Ermordeten, hat mitgeteilt, Milord habe für eine gewisse Dame geschwärmt, und er habe sich am Abend des 15. März nach Spa begeben wollen, zu einem romantischen Stelldichein. Ob es wohl Madame Sansfond war, die ihn zu diesem Treffen bestellt hatte? Es kam nicht zustande, da der arme Kol- lektionär in einem so unpassenden Moment von einem Podagraanfall heimgesucht wurde. Die Redaktion unterfängt sich nicht, eine eigene Theorie aufzustellen, hält es jedoch für ihre Pflicht, Kommissar Coche auf diesen bemerkenswerten Umstand hinzuweisen. Weitere Mitteilungen zu diesem Thema demnächst.
CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN
Das städtische Gesundheitsamt teilt mit, daß die Herde der Cholera, derer man seit dem Sommer Herr zu werden versucht, endgültig lokalisiert sind. Die energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte haben gegriffen, und man darf hoffen, daß die Epidemie dieser gefährlichen Krankheit, die schon im Juli ausbrach, endlich
»Was soll das?« Renate zog verblüfft die Stirn kraus. »Ein Mord, eine Epidemie.«
»Nun, die Cholera ist in dem Zusammenhang unwichtig«, erklärte Professor Sweetchild. »Die Nachricht ist zufällig mit ausgeschnitten worden. Es geht natürlich um den Mord in der Rue de Grenelle. Haben Sie nicht davon gehört? Von dem Fall haben doch alle Zeitungen berichtet.«
»Ich lese keine Zeitungen«, erklärte Madame Kleber würdevoll. »In meinem Zustand ist das zu enervierend. Ich muß nicht über jede Scheußlichkeit informiert sein.«
»Kommissar Coche?« Leutnant Regnier kniff die Augen ein, nachdem er die Notiz nochmals überflogen hatte. »Das wird doch nicht unser Monsieur Coche sein?«
Miss Stomp ächzte auf.
»Das gibt’s doch nicht!«
Die Frau des Doktors trat herzu. Die Sensation war perfekt, und alle redeten durcheinander: »Polizei, hier ist französische Polizei im Spiel!« rief Milford-Stokes aufgeregt.
Regnier murmelte: »Der Kapitän fragt mich dauernd nach dem Salon >Windsor< aus.«
Der Doktor übersetzte wie immer für seine Frau. Der Russe bemächtigte sich des Ausschnitts und studierte ihn aufmerksam.
»Das mit den indischen Fanatikern ist völliger Unsinn«, erklärte Sweetchild. »Ich habe das von Anfang an gesagt. Erstens gibt es keine blutgierige Sekte von Schiwa-Anhängern. Und zweitens hat sich die Statuette bekanntlich wohlbehalten wieder angefunden. Hätte ein religiöser Fanatiker sie etwa in die Seine geworfen?«
»Ja, das mit dem goldenen Schiwa ist ein Rätsel.« Miss Stomp nickte. »Sie schreiben, er sei die Perle in der Sammlung von Lord Littleby gewesen. Stimmt das, Herr Professor?«
Der Indologe zuckte nachsichtig die Achseln.
»Wie soll ich’s Ihnen sagen, gnädige Frau. Die Sammlung von Lord Littleby ist erst kürzlich entstanden, vor zwanzig Jahren. In solcher Frist ist es schwer, Herausragendes zusammenzutragen. Der Tote soll sich während der Niederschlagung des Sepoy-Aufstands 1857 sehr bereichert haben. Den berüchtigten Schiwa zum Beispiel soll ihm ein Maharadscha >geschenkt< haben, dem wegen Verbindung zu den Meuterern ein militärisches Feldgericht drohte. Zweifelsohne enthielt Lord Littlebys Sammlung etliche Kostbarkeiten, aber die Auswahl war ziemlich chaotisch.«
»Nun erzählen Sie mir doch endlich, warum dieser Lord ermordet wurde«, verlangte Renate. »Monsieur Aono weiß es auch nicht, stimmt’s?« wandte sie sich an den Japaner, der abseits stand.
Der Japaner lächelte nur mit den Lippen und verbeugte sich. Der Russe tat, als applaudiere er.
»Bravo, Madame Kleber. Sie fragen genau auf den Punkt. Ich habe den Fall in der Presse verfolgt. Das Motiv für das Verbrechen ist meiner Meinung nach hier w-wichtiger als alles andere. Da liegt der Schlüssel für die Lösung. Ja, warum? Zu welchem Zweck wurden zehn Menschen ermordet?«
»Ach, grade das ist einfach!« sagte Miss Stomp. »Der Plan war, die wertvollsten Stücke der Sammlung zu rauben, aber der Verbrecher verlor die Nerven, als er unvermittelt auf den Hausherrn traf. Er hatte ja angenommen, der Lord wäre verreist. Es ist wohl ein Unterschied, ob man jemandem eine Spritze gibt oder ob man ihm den Schädel einschlägt. Aber das weiß ich nicht, ich habe es noch nie versucht.« Sie ruckte mit den Schultern. »Die Nerven des Verbrechers haben nachgegeben, und so hat er die Sache nicht zu Ende geführt. Und was den weggeworfenen Schiwa angeht ...« Miss Stomp überlegte. »Vielleicht ist das der schwere Gegenstand, mit welchem dem armen Littleby der Kopf zerschmettert wurde. Es ist durchaus denkbar, daß dem Verbrecher menschliche Gefühle nicht fremd waren und er sich einfach ekelte, vielleicht auch fürchtete, das blutbespritzte Mordwerkzeug in der Hand zu halten. Darum ging er zum Fluß und warf den Schiwa in die Seine.«
»Das mit dem Mordwerkzeug ist sehr wahrscheinlich«, bemerkte der Diplomat. »Ich bin der gleichen M-meinung.«
Die alte Jungfer erglühte vor Freude, wurde jedoch gleich darauf verlegen, als sie Renates spöttischen Blick auffing.
»You are saying outrageous things«, sagte die Frau des Doktors vorwurfsvoll zu Clarissa Stomp, nachdem sie die Übersetzung angehört hatte. »Shouldn’t we find a more sui- table subject for table talk?«[1]
Aber der Appell der farblosen Person verhallte ungehört.
»Ich meine, am rätselhaftesten ist der Tod der Bediensteten!« mischte sich der langschlaksige Indologe in die kriminalistische Diskussion. »Wieso haben die sich die Injektionen geben lassen? Unter ihnen waren immerhin zwei Wächter, und beide hatten einen Revolver umgeschnallt. Da liegt der Hund begraben.«
»Ich habe meine eigene Hypothese«, sagte Regnier mit wichtiger Miene. »Und ich bin bereit, sie wo auch immer zu vertreten. Das Verbrechen in der Rue de Grenelle wurde von einem Menschen verübt, der außergewöhnliche mesmeristi- sche Fähigkeiten besitzt. Die Bediensteten befanden sich in mesmeristischer Trance, das ist die einzig mögliche Erklärung! Der >tierische Magnetismus< ist eine furchtbare Kraft. Ein erfahrener Manipulator kann mit Ihnen machen, was er will. Jaja, Madame«, wandte er sich an die ungläubig guckende Mrs. Truffo. »Wirklich alles.«
1
(engl.) Sie sagen schreckliche Dinge. Könnten wir nicht passendere Themen für das Tischgespräch finden?