»Not if he is dealing with a lady«[2], antwortete sie streng.
Der vom Dolmetschen strapazierte Dr. Truffo wischte sich mit dem Taschentuch die schweißnasse Stirn und trat zur Verteidigung der wissenschaftlichen Weltanschauung an.
»Ich erlaube mir, anderer Meinung zu sein«, sagte er auf französisch mit starkem Akzent. »Die Lehre des Herrn Mesmer gilt seit langem als wissenschaftlich unbegründet. Die Kraft des Mesmerismus oder, wie er jetzt genannt wird, der Hypnose, wird stark übertrieben. Der angesehene Mister James Braid hat überzeugend nachgewiesen, daß nur psychologisch beeinflußbare Individuen der hypnotischen Einwirkung erliegen, und auch nur dann, wenn sie dem Hypnotiseur vertrauen und einer hypnotischen Seance zustimmen.«
»Man merkt sofort, daß Sie noch nicht den Orient bereist haben, lieber Doktor!« Regnier lächelte mit weißen Zähnen. »Auf jedem indischen Basar zeigt Ihnen ein Fakir solche Wunder der mesmeristischen Kunst, daß selbst dem ärgsten Skeptiker die Augen übergehen. Aber das sind Tricks! In Kandahar habe ich einmal einer öffentlichen Exekution zugeschaut. Nach muselmanischem Gesetz wird Diebstahl mit dem Abhacken der rechten Hand geahndet. Diese Prozedur ist dermaßen schmerzhaft, daß die Delinquenten häufig am Schmerzschock sterben. Diesmal wurde ein Kind des Diebstahls überführt. Da der Junge zum zweitenmal erwischt worden war, mußte das Gericht ihm die von der Scharia vorgesehene Strafe auferlegen. Aber der Richter war barmherzig, er ließ einen Derwisch holen, der für seine wundertätigen Fähigkeiten berühmt war. Der Derwisch faßte den
Verurteilten bei den Schläfen, sah ihm in die Augen, flüsterte etwas - und der Junge beruhigte sich, hörte auf zu zittern. Auf seinem Gesicht erschien ein sonderbares Lächeln, das nicht einmal in dem Moment verschwand, als der Henker ihm mit der Axt die Hand bis zum Ellbogen abhackte! Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen, ich schwöre es Ihnen!«
»Pfui, wie scheußlich!« rief Renate aufgebracht. »Sie mit Ihrem Orient, Charles! Mir wird gleich schlecht!«
»Verzeihen Sie, Madame Kleber«, rief der Leutnant erschrocken. »Ich wollte nur zeigen, daß verglichen damit irgendwelche Injektionen reine Lappalien sind.«
»Ich erlaube mir schon wieder, anderer Meinung zu sein als Sie.« Der dickköpfige Doktor wollte seinen Standpunkt vertreten, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Salons, und herein kam der Rentier oder Polizist, kurzum, Monsieur Coche.
Alle wandten sich ihm zu, mit einer gewissen Verlegenheit, als wären sie bei einer nicht ganz anständigen Beschäftigung ertappt worden.
Coche überflog mit scharfem Blick die Gesichter, sah den Zeitungsausschnitt in der Hand des Diplomaten und verfinsterte sich.
»Da ist er also . Das hatte ich befürchtet.«
Renate trat zu dem Alten mit dem grauen Schnauzbart, musterte seine massige Gestalt ungläubig von Kopf bis Fuß und schoß heraus: »Monsieur Coche, sind Sie wirklich Polizist?«
»Derselbe Kommissar, der in dem >V-verbrechen des Jahr- hunderts< ermittelt?« präzisierte Fandorin (richtig, so heißt der russische Diplomat, erinnerte sich Renate). »Wie erklären Sie dann Ihre Maskerade und überhaupt Ihre A-an- wesenheit an Bord?«
Coche schnaufte ein wenig, zog die Augenbrauen hoch, griff nach der Pfeife. Man sah förmlich, wie sein Gehirn arbeitete und nach einem Ausweg suchte.
»Nehmen Sie Platz, meine Damen und Herren«, sagte er in nachdrücklichem Baß und verschloß mit einer Schlüsseldrehung hinter sich die Tür. »Wenn es schon so gekommen ist, lassen Sie uns mit offenen Karten spielen. Bitte Platz zu nehmen, sonst passiert es noch, daß dem einen oder anderen die Beine einknicken.«
»Was sollen die Scherze?« sagte der Leutnant verdrossen. »Mit welchem Recht kommandieren Sie uns herum, noch dazu in Anwesenheit des Ersten Offiziers?«
»Das, junger Mann, wird Ihnen der Kapitän persönlich erklären«, sagte Coche mit einem feindseligen Blick. »Er ist im Bilde.«
Regnier gab klein bei und nahm mit den anderen wieder am Tisch Platz.
Der geschwätzige und einfältige Knurrer, als den Renate den Pariser Rentier angesehen hatte, legte ein ganz neues Verhalten an den Tag. Die Schultern zeigten straffe Haltung, die Gesten wurden herrisch, die Augen bekamen einen harten Glanz. Mit welcher Gelassenheit und Selbstsicherheit er die Pause in die Länge zog, allein das sagte viel aus. Sein durchdringender Blick haftete der Reihe nach auf allen Anwesenden, und Renate sah, daß mehrere sich unter diesem schweren Blick duckten. Ihr selbst, das gestand sie sich ein, war auch ein bißchen unheimlich, doch dann schüttelte sie unbekümmert den Kopf: Ja, er war Polizeikommissar, na und? Trotzdem blieb er ein korpulenter, kurzatmiger alter Zausel, mehr nicht.
»Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Monsieur Coche«, sagte sie spöttisch. »Ich darf mich nicht aufregen.«
»Grund zum Aufregen hat hier wohl nur einer der Anwesenden«, antwortete er geheimnisvoll. »Aber davon später. Zunächst erlauben Sie mir, mich noch einmal vorzustellen. Ja, ich heiße Gustave Coche, aber Rentier bin ich leider noch nicht. Ja, meine Damen und Herren, ich bin Kommissar der Pariser Kriminalpolizei und gehöre zu der Abteilung, die sich mit schweren und verworrenen Verbrechen beschäftigt. Ich bin >Ermittlungsführer in besonders wichtigen Fällen<.«
Im Salon herrschte Grabesstille, unterbrochen lediglich vom hastigen Flüstern des Arztes.
»What a scandal!« piepste Mrs. Truffo.
»Ich war gezwungen, diese Reise mitzumachen, noch dazu incognito, denn ...« Coche sog heftig an seiner halberloschenen Pfeife, »denn die Pariser Polizei hat triftige Gründe anzunehmen, daß die Person, die das Verbrechen in der Rue de Grenelle verübte, sich an Bord der >Leviathan< befindet.«
Durch den Salon wehte ein allgemeines »Ach!«.
»Ich vermute, Sie haben über diesen in vieler Hinsicht geheimnisvollen Fall bereits gesprochen.« Der Kommissar wies mit seinem Doppelkinn auf den Zeitungsausschnitt, den Fandorin nach wie vor in der Hand hielt. »Aber das ist noch nicht alles, meine Damen und Herren. Ich weiß zuverlässig, daß der Mörder in der ersten Klasse reist.« (Wieder ein kollektiver Seufzer.) »Mehr noch, er befindet sich in diesem Moment hier im Salon«, schloß Coche munter, setzte sich in einen Atlassessel am Fenster und faltete erwartungsvoll die Finger etwas unterhalb der silbernen Uhrkette.
»Unmöglich!« schrie Renate und griff unwillkürlich mit beiden Händen nach ihrem Bauch.
Leutnant Regnier sprang auf.
Der rothaarige Baronet lachte schallend und applaudierte demonstrativ.
Professor Sweetchild schluckte krampfhaft und nahm die Brille ab.
Clarissa Stomp erstarrte, die Finger auf der Achatbrosche ihres Krägelchens.
Im Gesicht des Japaners zuckte kein Muskel, aber das höfliche Lächeln gerann.
Der Doktor faßte seine Ehehälfte am Ellbogen und vergaß, ihr das Wichtigste zu übersetzen, aber Mrs. Truffo hatte, nach ihren hervorquellenden Augen zu urteilen, von selber begriffen.
Der Diplomat fragte halblaut: »Beweise?«
»Meine Anwesenheit«, antwortete der Kommissar ungerührt. »Das genügt. Es gibt auch andere Erwägungen, aber das brauchen Sie nicht zu wissen ... Nun ja.« Die Stimme des Polizisten klang enttäuscht. »Ich sehe, niemand fällt in Ohnmacht, niemand ruft: >Verhaften Sie mich, ich bin der Mörder!< Damit habe ich natürlich auch nicht gerechnet. Also dann.« Er hob drohend den kurzen Zeigefinger. »Sie dürfen mit keinem der anderen Passagiere darüber sprechen. Das läge auch gar nicht in Ihrem Interesse - das Gerücht würde sich im Nu verbreiten, und man würde Sie ansehen, als hätten Sie die Pest. Versuchen Sie nicht, in einen anderen Salon zu wechseln, das würde nur meinen Verdacht verstärken. Es würde auch nicht klappen, denn ich habe eine Absprache mit dem Kapitän.«