Renate lispelte mit zitternder Stimme: »Lieber Monsieur Coche, können Sie nicht wenigstens mich von diesem Alpdruck befreien? Ich habe Angst, mit einem Mörder an einem Tisch zu sitzen. Womöglich tut er mir Gift in den Tee? Ich kriege ja keinen Bissen mehr herunter. Außerdem darf ich mich nicht aufregen. Ich werde mit niemandem darüber sprechen, mein Ehrenwort!«
»Tut mir leid, Madame Kleber«, antwortete der Kommissar mürrisch, »aber ich kann keine Ausnahme machen. Ich habe gute Gründe, jeden der Anwesenden zu verdächtigen, und nicht zuletzt Sie.«
Renate sank mit schwachem Stöhnen gegen die Stuhllehne. Leutnant Regnier stampfte verärgert mit dem Fuß auf.
»Was erlauben Sie sich, Herr Kommissar! Ich werde das sofort Kapitän Cliff melden!«
»Tun Sie das«, sagte Coche gleichmütig. »Aber nicht sofort, erst etwas später. Ich bin mit meiner kleinen Rede noch nicht fertig. Also, noch weiß ich nicht, wer von Ihnen mein Kunde ist, obwohl ich dem Ziel schon sehr nahe bin.«
Renate hatte erwartet, diesen Worten werde ein vielsagender Blick folgen, und saß vorgebeugt, doch nein, der Kommissar guckte nur auf seine dämliche Pfeife. Wahrscheinlich hatte er geflunkert und war einstweilen niemandem auf der Spur.
»Sie verdächtigen eine Frau, das spürt man doch!« rief Miss Stomp nervös. »Weshalb sonst tragen Sie die Notiz über eine Marie Sansfond bei sich? Wer ist diese Marie Sansfond? Doch wer auch immer! Was für eine Dummheit, eine Frau zu verdächtigen! Ist eine Frau zu solcher Bestialität fähig?«
Mrs. Truffo stand hektisch auf, sichtlich bereit, unter das Banner der weiblichen Solidarität zu treten.
»Über Mademoiselle Sansfond reden wir ein anderes Mal«, antwortete der Kommissar und maß Clarissa Stomp mit einem rätselhaften Blick. »Solche Notizen habe ich en masse bei mir, und jede enthält eine eigene Version.« Er schlug seine Mappe auf und raschelte mit Zeitungsausschnitten. Es waren in der Tat mehr als ein Dutzend. »Und nun Schluß, meine Damen und Herren, ich bitte, mich nicht mehr zu unterbrechen!« Seine Stimme klang eisern. »Ja, unter uns ist ein gefährlicher Verbrecher. Möglicherweise ein Psychopath.« (Renate sah Professor Sweetchild mit seinem Stuhl sacht von Milford-Stokes wegrücken.) »Darum bitte ich Sie alle, Vorsicht walten zu lassen. Wenn Sie etwas Ungewöhnliches wahrnehmen, selbst eine Kleinigkeit - gleich zu mir. Am besten wäre natürlich, wenn der Mörder aufrichtig bereute, er kann ja sowieso nicht weg. Das wäre alles.«
Mrs. Truffo hob wie ein Schulkind die Hand.
»In fact, I have seen something extraordinary only yester- day! A charcoal-black face, definitely inhuman, looked at me from the outside while I was in our cabine! I was so scared!« Sie drehte sich zu ihrem Ehegespons um und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »I told you, but you paid no attention.«[3]
»Ach«, sagte Renate auffahrend, »mir ist gestern aus dem Necessaire ein kleiner Spiegel mit echtem Schildpattrahmen weggekommen.«
Der Psychopath wollte offenbar auch etwas sagen, aber der Kommissar klappte ärgerlich die Mappe zu.
»Halten Sie mich gefälligst nicht für einen Idioten! Gustave Coche ist ein alter Spürhund, den bringt man nicht von seiner Spur ab. Wenn nötig, setzen wir die ganze ehrenwerte Gesellschaft an Land und nehmen uns jeden einzeln vor! Zehn Menschen sind getötet worden, das ist kein Spaß! Denken Sie nach, meine Damen und Herren, denken Sie nach!«
Er verließ den Salon und knallte die Tür hinter sich zu.
»Meine Herrschaften, mir ist schlecht«, hauchte Renate. »Ich gehe in meine Kabine.«
»Ich begleite Sie, Madame Kleber«, sagte Charles Regnier und eilte zu ihr. »Das ist unerhört! Was für eine Frechheit!«
Renate schob ihn weg.
»Nicht nötig, danke. Ich schaff’s schon.«
Unsicheren Schritts durchquerte sie den Raum, lehnte sich bei der Tür für einen Moment an die Wand. Im menschenleeren Korridor beschleunigte sie den Schritt. Sie öffnete die Tür ihrer Kabine, holte unter dem Sofa ihre Reisetasche hervor und schob die zitternde Hand unter das Seidenfutter. Ihr Gesicht war bleich, aber entschlossen. Ihre Finger ertasteten eine kleine Metallschachtel.
Darin blinkte Glas und Stahl - eine Spritze.
CLARISSA STOMP
Die Unannehmlichkeiten begannen schon früh am Morgen. Im Spiegel entdeckte Clarissa zwei neue Falten, kaum erkennbare feine Strahlen, die sich von den Augenwinkeln zu den Schläfen hinzogen. Das lag an der Sonne, die war in diesen Breiten so grell, daß weder der Schirm noch der Hut Schutz boten. Clarissa betrachtete sich lange in der gnadenlosen glatten Fläche und zog mit den Fingern die Haut straff, in der Hoffnung, die Falten könnten vom Schlaf rühren und würden sich wieder glätten. Dann drehte sie den Hals und erspähte hinterm Ohr ein weißes Haar. Da wurde sie ganz traurig. Ob das auch von der Sonne kam? Ob die das Haar ausbleichte? Nein, Miss Stomp, machen Sie sich nichts vor. Wie sagte doch der Dichter?
Sorgfältiger als gewöhnlich machte sie sich zurecht. Das weiße Haar wurde herausgerissen. Das war natürlich dumm. Es war wohl John Donne, der gesagt hatte, das Geheimnis des weiblichen Glücks bestehe in der Fähigkeit, den Übergang aus einem Alter in das andere rechtzeitig zu vollziehen, und die Frau habe drei Alter: Tochter, Gattin und Mutter. Wie aber sollte sie aus dem zweiten Status in den dritten gelangen, wenn sie noch nie verheiratet war?
Das beste Mittel gegen solche Gedanken war ein Spaziergang an der frischen Luft, und Clarissa begab sich an Deck. So gewaltig die »Leviathan« auch war, Clarissa hatte das Schiff längst mit gleichmäßigen bedächtigen Schritten ausgemessen, zumindest das Oberdeck, das für die Passagiere der ersten Klasse reserviert war. Es waren dreihundertfünfundfünfzig Schritte, die dauerten siebeneinhalb Minuten, wenn sie sich nicht in den Anblick der See vertiefte und nicht mit Bekannten schwatzte.
Zu der frühen Stunde waren noch keine Bekannten an Deck, und Clarissa wanderte ungehindert an Steuerbord nach achtern. Der Dampfer durchschnitt ruhig das braune Wasser des Roten Meeres, und von der mächtigen Schraube zog sich eine träge graue Furche bis zum Horizont. Uff, diese Hitze.
Clarissa beobachtete die Matrosen, die ein Deck tiefer das Messingblech der Reling blank putzten. Die hatten es gut in ihren Leinenhosen - kein Mieder, keine lange Unterhose, keine Strümpfe mit straffen Strumpfbändern, kein langes Kleid. Da konnte man neidisch werden auf den exotischen Mr. Aono, der in seinem japanischen Schlafrock herumspazierte, was niemanden verwunderte - ein Asiat eben.
Sie stellte sich vor, wie sie auf der mit Leinen bezogenen Chaiselongue lag und nichts anhatte. Doch, eine leichte Tunika wie eine Griechin der Antike. Und nichts wäre dabei. In hundert Jahren, wenn die Menschheit sich endgültig ihrer Vorurteile entledigt hätte, würde das völlig normal sein.
Ihr entgegen rollte auf seinem amerikanischen Dreirad mit raschelnden Kautschukreifen Mr. Fandorin. Es hieß, diese Übung eigne sich hervorragend dazu, die Muskeln elastisch zu halten und das Herz zu kräftigen. Der Diplomat trug einen leichten Sportanzug: karierte Hose, Guttaperchaschuhe mit Gamaschen, kurze Jacke, weißes Hemd mit offenem Kragen. Das von der Sonne goldbraune Gesicht erstrahlte in einem freundlichen Lächeln. Mr. Fandorin lüpfte ehrerbietig den Korkhelm und rauschte vorüber, ohne anzuhalten.
Clarissa seufzte. Die Idee mit dem Spaziergang war doch nicht so gut - sie war durchgeschwitzt und mußte in die Kabine zurückkehren und sich umziehen.
Das Frühstück vermieste ihr die quengelige Madame Kleber. Erstaunlich deren Fähigkeit, aus ihrer Schwäche ein Ausbeutungswerkzeug zu machen! Gerade als der Kaffee in Cla- rissas Tasse bis zur erwünschten Temperatur abgekühlt war, klagte die unleidliche Schweizerin, ihr sei zu heiß, und bat, ihr das Mieder zu lockern. Clarissa tat gewöhnlich so, als ob sie das Geningel der Kleber nicht hörte, und es fand sich auch stets ein Freiwilliger, doch für solch eine delikate Sache taugten Männer nicht, und Mrs. Truffo war ausgerechnet nicht da, sie half ihrem Mann, eine erkrankte Dame zu behandeln. Die langweilige Person war wohl früher Krankenschwester gewesen. Was für ein sozialer Aufstieg: Jetzt war sie Chefarztgattin, speiste in der ersten Klasse und gerierte sich als echte britische Lady, nur daß sie zu dick auftrug.
3
(engl.) Ich habe tatsächlich etwas Außergewöhnliches gesehen, erst gestern! Ein kohlschwarzes Gesicht, ganz unmenschlich, guckte mich von draußen an, als ich in unserer Kabine war! Ich war furchtbar erschrocken! Ich habe es dir gesagt, aber du hast dem keine Bedeutung beigemessen!