»Nicht ganz. Ein T-tuch hat er behalten.«
»Was für ein Tuch?« fragte der Doktor verständnislos.
»Ein indisches, bunt bemalt. Darin hatte der Mörder, wenn man den Zeitungen glauben darf, den geraubten Schiwa eingewickelt.«
Der Scherz wurde mit nervösem Gelächter aufgenommen.
Der Arzt breitete theatralisch die Arme aus.
»Ein Tuch, was ist das schon.«
Plötzlich fuhr Professor Sweetchild zusammen und riß die Brille von der Nase, bei ihm ein Zeichen starker Erregung.
»Lachen Sie nicht! Ich habe mich dafür interessiert, welches der Tücher geraubt wurde. Oh, meine Herrschaften, das ist ein ungewöhnliches Stück Stoff, daran hängt eine ganze Geschichte. Haben Sie mal von dem Smaragdenen Radscha gehört?«
»Ist das nicht ein legendärer indischer Nabob?« fragte Clarissa.
»Nicht legendär, sondern ganz real, Madame. So wurde der Radscha Bagdassar genannt, der Herrscher des Fürstentums Brahmapur. Das Fürstentum liegt in einem weiten fruchtbaren Tal und ist ringsum von Bergen umschlossen. Die Radschas führen ihre Herkunft auf den großen Babur zurück und bekennen sich zum Islam, doch das hat sie nicht gehindert, ihr kleines Land dreihundert Jahre lang friedlich zu regieren, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung aus Hindus besteht. Trotz der Religionsunterschiede zwischen der herrschenden Kaste und den Untertanen gab es in dem Fürstentum niemals Aufstände oder Zwistigkeiten, die Radschas wurden immer reicher, und in der Regierungszeit Bagdassars galt das Herrscherhaus von Brahmapur als das reichste von ganz Indien nach dem Nizam von Haidarabad, dessen Reichtum, wie Sie natürlich wissen, denjenigen aller Monarchen in den Schatten stellt, eingeschlossen Königin Victoria und den russischen Imperator Alexander.«
»Die Größe unserer Königin mißt sich nicht an ihrer Schatzkammer, sondern an dem Reichtum ihrer Untertanen«, sagte Clarissa streng, ein wenig pikiert über die Bemerkung Sweetchilds.
»Zweifellos«, pflichtete der Professor ihr bei und war nicht mehr zu bremsen. »Aber der Reichtum der Radschas von
Brahmapur war von ganz besonderer Art. Sie häuften kein Gold, kein Silber, bauten keine Paläste aus rosa Marmor. O nein, diese Herrscher kannten dreihundert Jahre lang nur eine Leidenschaft - Edelsteine. Wissen Sie, was der >Brahmapurer Standard< ist?«
»Ist das nicht ein Brillantschliff?« fragte Doktor Truffo unsicher.
»Der >Brahmapurer Standard< ist ein Juwelierausdruck. Damit bezeichnet man Diamanten, Saphire, Rubine oder Smaragde, die auf besondere Weise geschliffen sind und die Größe einer Walnuß haben, das entspricht achtzig Karat Gewicht.«
»Aber das ist sehr groß«, sagte Regnier verwundert. »Solche Steine kommen äußerst selten vor. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, ist selbst der Diamant >Regent<, Juwel des französischen Staatsschatzes, nur wenig größer.«
»Nein, Leutnant, der Diamant >Pitt<, auch >Regent< genannt, ist fast doppelt so groß«, korrigierte der Professor den Seeman mit autoritärer Miene, »aber achtzig Karat, namentlich bei Steinen reinen Wassers, das ist sehr viel. Also, meine Herrschaften, stellen Sie sich vor, Bagdassar hatte von solchen Steinen, noch dazu in makelloser Qualität, fünfhundertzwölf Stück!«
»Ausgeschlossen!« rief Milford-Stokes.
Und Fandorin fragte: »Warum gerade f-fünfhundert- zwölf?«
»Wegen der heiligen Zahl 8«, erklärte Sweetchild bereitwillig. »512 - das ist 8 x 8 x 8, das heißt, eine Acht in der dritten Potenz, eine Kubikzahl, eine sogenannte Idealzahl. Hier zeigt sich ohne Zweifel der Einfluß des Buddhismus, der die Acht besonders verehrt. Im nordöstlichen Teil von Indien, wo Brahmapur liegt, sind die Religionen aufs wunderlichste miteinander verquickt. Aber am interessantesten ist, wo und wie dieser Schatz aufbewahrt wurde.«
»Nämlich?« fragte Renate Kleber.
»In einer einfachen, schmucklosen irdenen Schatulle. 1852 war ich als junger Archäologe in Brahmapur und hatte mehrere Begegnungen mit dem Radscha Bagdassar. Auf dem Territorium des Fürstentums waren im Dschungel die Ruinen eines alten Tempels entdeckt worden, und Seine Hoheit luden mich ein, den Fund zu begutachten. Ich führte die notwendigen Untersuchungen durch, und was meinen Sie? Ich stellte fest, daß dieser Tempel schon in der Zeit des Herrschers Sandragupta gebaut worden war, als .«
»Stop-stop-stop!« unterbrach der Kommissar den Gelehrten. »Von der Archäologie können Sie uns ein andermal erzählen. Zurück zu dem Radscha.«
»Na gut.« Der Professor blinzelte. »Das ist wirklich besser. Also, der Radscha war mit mir zufrieden und zeigte mir als Zeichen besonderen Wohlwollens seine legendäre Schatulle. Oh, diesen Anblick werde ich nie vergessen!« Sweetchild kniff die Augen zu. »Stellen Sie sich ein unterirdisches Gewölbe vor. Neben der Tür brennt eine einzige Fackel, die in einem bronzenen Halter steckt. Wir waren zu zweit - der Radscha und ich, seine Vertrauten waren vor der massiven Tür zurückgeblieben, die von einem Dutzend Wächter bewacht wurde. Ich konnte die Einrichtung der Schatzkammer nicht erkennen, meine Augen hatten sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt. Ich hörte nur, wie Seine Hoheit klirrende Schlösser öffnete. Dann wandte sich Bagdassar mir zu, und ich sah in seinen Händen einen erdfarbenen Kubus, der sehr schwer zu sein schien. Die Größe ...« Sweetchild öffnete die Augen und blickte sich um. Alle hörten wie verzaubert zu, Renate Kleber sogar mit kindlich geöffnetem Mund.
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht so groß wie der Hut von Miss Stomp, wenn man ihn in eine quadratische Schachtel legt.« Alle starrten wie auf Kommando den Tiroler Hut mit der Fasanenfeder an. Clarissa Stomp ertrug die allgemeine Musterung mit einem würdevollen Lächeln, wie man es ihr als Kind beigebracht hatte. »Der Kubus ähnelte einem gewöhnlichen Lehmziegel, wie sie dort zum Bauen verwendet werden. Später erklärte mir der Radscha, daß die derbe, monotone Lehmoberfläche das prachtvolle Licht- und Farbenspiel der Edelsteine bedeutend besser hervorhebt als Gold oder Elfenbein. Davon konnte ich mich überzeugen. Bag- dassar legte langsam die mit Ringen übersäte Hand auf den Deckel der Schatulle, hob ihn mit einer schnellen Bewegung, und ... Ich war geblendet, meine Herrschaften!« Die Stimme des Professors zitterte. »Das ... Das läßt sich nicht mit Worten beschreiben! Ein geheimnisvoller, funkelnder, vielfarbiger Glanz brach aus dem dunklen Kubus und warf bunte Blinklichter auf die düsteren Gewölbe des Kellers. Die runden Steine lagen in acht Schichten, deren jede aus vierundsechzig geschliffenen Quellen des unglaublichen Strahlens bestand. Der Effekt wurde zweifellos verstärkt durch die flackernde Flamme der einzigen Fackel. Noch immer sehe ich vor mir das Gesicht von Radscha Bagdassar, angestrahlt von dem Zauberlicht .«
Der Gelehrte schloß wieder die Augen und verstummte.
»Wieviel sind denn diese bunten Steinchen wert?« fragte der Kommissar mit knarrender Stimme.
»Ja, wirklich, wieviel wohl?« griff Madame Kleber die Frage auf. »Sagen wir, in englischen Pfund.«
Clarissa hörte Mrs. Truffo vernehmlich ihrem Mann zuflüstern: »She’s so vulgar!«
»Wissen Sie«, sagte Sweetchild mit gutmütigem Lächeln,
»die Frage habe ich mir auch gestellt. Sie zu beantworten ist nicht einfach, denn der Preis von Edelsteinen schwankt je nach den Marktbedingungen, und der heutige Stand ...«
»Ja, ja, der heutige, nicht der des Herrschers Sandragupta«, knurrte Coche.
»Hm . Ich weiß nicht genau, wieviel Brillanten, wieviel Saphire und wieviel Rubine der Radscha besaß. Aber mir ist bekannt, daß er am meisten Smaragde schätzte, was ihm auch seinen Beinamen eintrug. In den Jahren seiner Regierung wurden sieben brasilianische und vier Uralsmaragde erworben: für jeden gab Bagdassar einen Brillanten her und zahlte noch drauf. Schauen Sie, jeder seiner Vorfahren hatte seinen Lieblingsstein, den er allen anderen vorzog und vor allen anderen zu erwerben trachtete. Die magische Zahl 512 wurde schon unter Bagdassars Großvater erreicht, und seitdem war es nicht das Ziel des Herrschers, die Zahl der Steine zu vermehren, sondern die Qualität zu verbessern. Steine, die nicht ganz vollkommen waren oder aus anderen Gründen nicht das Wohlwollen des regierenden Fürsten fanden, wurden verkauft - daher der Ruhm des >Brahmapurer Standards<, der sich nach und nach in der Welt verbreitet hat. Dafür kamen dann andere, wertvollere Steine in die Schatulle. Diese Besessenheit brachte Bagdassars Vorfahren um den Verstand. Einer von ihnen kaufte dem persischen Schah Abbas dem Großen einen gelben Saphir von hundertfünfzig Karat ab und bezahlte für dieses Wunderding zehn Karawanen Elfenbein, aber der Stein war größer als vorgeschrieben, darum haben die Juweliere des Radschas alles Überflüssige abgeschnitten.«