»Das ist natürlich furchtbar«, sagte der Kommissar, »kehren wir dennoch zu dem Preis zurück.«
Aber diesmal ließ sich der Indologe nicht so einfach in die gewünschte Richtung drängen.
»So warten Sie doch!« wehrte er den Kommissar unhöflich ab. »Geht es denn um den Preis? Wenn von einem Edelstein dieser Größe und Qualität die Rede ist, denkt man nicht an Geld, sondern an die Zauberkräfte, die ihm seit alters zugeschrieben werden. Der Diamant etwa gilt als Symbol der Reinheit. Unsere Vorfahren prüften die Treue ihrer Frauen so: Sie legten der schlafenden Gattin einen Diamanten unters Kissen. War sie treu, so wandte sie sich sogleich, ohne aufzuwachen, ihrem Manne zu und umarmte ihn. Betrog sie ihn aber, so wälzte sie sich hin und her, bis der Stein zu Boden fiel. Außerdem galt der Diamant als Garant der Unbesiegbarkeit. Die alten Araber glaubten, in einer Schlacht werde derjenige Feldherr siegen, der den größeren Diamanten besitze.«
»Die alten Alabel illten sich«, fiel plötzlich Gintaro Aono dem eifrigen Redner ins Wort.
Alle blickten verblüfft den Japaner an, der sich sehr selten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligte und noch nie jemanden unterbrochen hatte. Der Asiat aber fuhr hastig mit seinem lustigen Akzent fort: »In del Akademie von Saint- Cyr haben sie uns beigeblacht, daß del bulgundische Helzog Kall del Kühne in die Schlacht gegen die Eidgenossen den liesigen Diamanten >Flolentinel< mitnahm, was ihn jedoch nicht vol del Niedellage bewahlte.«
Der Ärmste tat Clarissa leid, er hatte mit seinen Kenntnissen glänzen wollen und das so unpassend.
Der Einwurf des Japaners wurde mit Grabesschweigen aufgenommen, und Aono errötete qualvoll.
»Ja, gewiß, Karl der Kühne.« Der Professor nickte mißmutig und sprach ohne den bisherigen Schwung weiter: »Der Saphir symbolisiert Treue und Beständigkeit, der Smaragd verleiht Weitsicht, der Rubin schützt vor Krankheiten und dem bösen Blick . Aber Sie fragten nach dem Wert der Schätze Bagdassars?«
»Ich verstehe, daß die Summe märchenhaft hoch ist, aber könnten Sie nicht wenigstens annähernd sagen, wie viele Nullen das sind?« sagte Madame Kleber, als spräche sie zu einem dummen Schüler, ein übriges Mal demonstrierend, daß sie eine Bankiersgattin war.
Clarissa hätte mit Vergnügen mehr über die Zauberkräfte der Edelsteine erfahren. Das Thema Geld interessierte sie nicht, das war ihr zu vulgär.
»Also, dann wollen wir mal schätzen.« Sweetchild zückte einen Bleistift und schrieb auf einer Papierserviette. »Früher galt der Diamant als der teuerste Stein, doch seit der Entdeckung der südafrikanischen Lagerstätten ist der Preis spürbar gesunken. Große Saphire werden öfter gefunden als andere Edelsteine, darum sind sie im Schnitt viermal weniger wert als Diamanten, doch das gilt nicht für gelbe und für Sternsaphire, und gerade die waren in Bagdassars Sammlung überwiegend vertreten. Reine Rubine und Smaragde von Übergröße sind äußerst selten und werden höher bewertet als Brillanten gleichen Gewichts . Gut, stellen wir uns der Einfachheit halber vor, alle 512 Steine wären Brillanten. Jeder wiegt, wie gesagt, 80 Karat. Nach der Formel von Taver- nier, nach der sich die Juweliere der ganzen Welt richten, wird der Wert eines Steins folgendermaßen errechnet: Der Marktpreis eines einkarätigen Diamanten wird multipliziert mit dem Quadrat der Karatzahl des Steins. Das ergibt . Ein ein- karätiger Diamant kostet an der Antwerpener Börse cirka fünfzehn Pfund. Das Quadrat von achtzig ist sechstausendvierhundert. Multipliziert mit fünfzehn . Hm . Sechsundneunzigtausend Pfund Sterling - das ist der Wert eines mittleren Steins aus Bagdassars Schatulle . Multipliziert mit fünfhundertzwölf . Ungefähr fünfzig Millionen Pfund Sterling. In Wirklichkeit noch mehr, denn wie ich Ihnen erklärte, werden farbige Steine dieser Größenordnung höher als Diamanten bewertet«, schloß Sweetchild feierlich seine Bilanz.
»Fünfzig Millionen? So viel?« fragte Regnier heiser. »Aber das sind ja anderthalb Milliarden Francs!«
Clarissa verschlug es den Atem, sie dachte nicht mehr an die romantischen Eigenschaften der Steine, sondern war erschüttert von der astronomischen Summe.
»Fünfzig Millionen! Das ist ja das halbe Jahresbudget des gesamten britischen Empire!« ächzte sie.
»Dreimal der Suezkanal!« murmelte der rothaarige Milford-Stokes. »Sogar noch mehr!«
Der Kommissar nahm auch eine Serviette und vertiefte sich in Berechnungen.
»Das ist mein Gehalt für dreihunderttausend Jahre«, sagte er verwirrt. »Haben Sie nicht zu dick aufgetragen, Professor? Ein kleiner regionaler Herrscher soll derartige Schätze besitzen?«
Stolz, als gehörten ihm alle Reichtümer Indiens persönlich, antwortete Sweetchild: »Das ist noch gar nichts! Die Kostbarkeiten des Nizam von Haidarabad werden auf dreihundert Millionen geschätzt, nur passen die nicht in eine kleine Schatulle. An Kompaktheit aber war der Schatz Bag- dassars wirklich einzigartig.«
Fandorin berührte den Indologen vorsichtig am Ärmel. »Gleichwohl nehme ich a-an, daß diese Summe einen etwas abstrakten Charakter trägt. Es würde schwerlich jemandem gelingen, eine solche Menge g-gigantischer Edelsteine mit einem Schlag zu verkaufen. Das würde ja den Marktpreis drücken.«
»Ihre Überlegung ist unzutreffend, Monsieur Diplomat«, erwiderte der Gelehrte lebhaft. »Das Prestige des >Brah- mapurer Standards< ist so hoch, daß man sich vor Kaufinteressenten nicht retten könnte. Ich bin überzeugt, daß mindestens die Hälfte der Steine in Indien bliebe - einheimische Fürsten würden sie aufkaufen, in erster Linie der erwähnte Nizam. Um die restlichen Steine würden die Bankhäuser von Europa und Amerika sich prügeln, und auch die europäischen Monarchen würden kaum die Gelegenheit versäumen, ihre Schatzkammern mit den Brahmapurer Meisterwerken zu schmücken. Oh, wenn Bagdassar gewollt hätte, würde er den Inhalt seiner Schatulle in wenigen Wochen losgeschlagen haben.«
»Sie reden über diesen Mann immer nur in der V-vergan- genheit«, bemerkte Fandorin. »Ist er tot? Was ist aus der Schatulle geworden?«
»Das weiß leider niemand. Bagdassar nahm ein tragisches Ende. Während des Sepoy-Aufstands beging der Radscha die Unvorsichtigkeit, mit den Empörern Geheimverhandlungen aufzunehmen, und der Vizekönig erklärte Brahmapur zum feindlichen Territorium. Böse Zungen behaupteten, Britannien habe einfach die Schätze Bagdassars an sich bringen wollen, aber das stimmt natürlich nicht, solcher Methoden bedienen wir Engländer uns nicht.«
»O doch.« Regnier nickte mit bösem Lächeln und wechselte einen Blick mit dem Kommissar.
Clarissa sah Fandorin unauffällig an - war der etwa auch vom Bazillus der Anglophobie infiziert? Aber der russische Diplomat saß mit unbewegter Miene da.
»Eine Schwadron Dragoner wurde in den Palast Bagdas- sars entsandt. Der Radscha versuchte, nach Afghanistan zu fliehen, aber die Kavallerie holte ihn bei einer Furt über den
Ganges ein. Sich verhaften zu lassen, das war unter Bagdassars Würde, und er nahm Gift. Die Schatulle hatte er nicht bei sich, nur ein Bündel mit einer Notiz in englischer Sprache. Sie war an die britischen Behörden gerichtet. Darin beschwor der Radscha seine Unschuld und bat, das Bündel seinem einzigen Sohn zukommen zu lassen. Der Junge wurde irgendwo in Europa in einem privaten Internat erzogen. Bei den indischen Würdenträgern neuerer Denkart ist das ganz normal. Ich muß erwähnen, daß Bagdassar sich keineswegs gegen die Einflüsse der Zivilisation sperrte. Er war mehrmals nach London und Paris gereist und hatte sogar eine Französin geehelicht.«