Выбрать главу

»Ach, wie ungewöhnlich!« rief Clarissa. »Mit einem indischen Radscha verheiratet zu sein! Was ist aus ihr geworden?«

»Zum Teufel mit ihr, erzählen Sie lieber von dem Bündel!« sagte der Kommissar ungeduldig. »Was war dann?«

»Rein gar nichts von Interesse.« Der Professor zuckte bedauernd die Achseln. »Ein Koran-Bändchen. Die Schatulle blieb spurlos verschwunden, obwohl sie überall gesucht wurde.«

»War es ein gewöhnlicher Koran?« fragte Fandorin.

»Ein ganz gewöhnlicher. In einer Bombayer Offizin gedruckt, mit frommen Randbemerkungen des Verblichenen. Der Schwadronskommandeur glaubte den Koran bestimmungsgemäß expedieren zu dürfen und behielt zur Erinnerung das Tuch, in das der Koran gewickelt war. Später wurde das Tuch von Lord Littleby erworben und in seine Sammlung indischer Seidenmalerei aufgenommen.«

Der Kommissar präzisierte: »Das Tuch, in das der Mörder den Schiwa eingewickelt hat?«

»Genau. Es ist in der Tat ein ungewöhnliches Tuch. Aus hauchdünner, federleichter Seide. Die Zeichnung ist recht trivial - ein lieblich singender Paradiesvogel, aber es gibt zwei einzigartige Besonderheiten, die ich noch auf keinem anderen indischen Tuch gesehen habe. Erstens hat der Vogel statt des Auges ein Löchlein, dessen Ränder in feinster Juwelierarbeit mit Brokatfaden umsäumt sind. Zweitens hat das Tuch eine interessante Form - ein unregelmäßiges Dreieck: zwei Seiten gewellt, eine vollkommen gerade.«

»Ist das Tuch sehr w-wertvoll?« fragte Fandorin.

»Na, das Tuch ist ganz uninteressant«, sagte Madame Kleber mit launisch vorgeschobener Unterlippe. »Erzählen Sie lieber von den Juwelen! Man hätte gründlicher suchen sollen.«

Sweetchild lachte.

»Oh, Madame, Sie haben keine Vorstellung, wie sorgfältig der neue Radscha gesucht hat! Er hatte uns während des Se- poy-Kriegs unschätzbare Dienste geleistet und erhielt als Belohnung den Thron von Brahmapur. Dem Ärmsten trübte sich vor Habgier das Urteilsvermögen. Ein Schlaukopf flüsterte ihm ein, Bagdassar habe die Schatulle in die Wand eines der Häuser eingemauert. Da die Schatulle tatsächlich nach Größe und Aussehen einem gewöhnlichen Lehmziegel glich, befahl der neue Radscha, alle Gebäude, die aus diesem Baumaterial errichtet waren, auseinanderzunehmen. Die Häuser wurden eines nach dem anderen abgetragen, und jeder Ziegel wurde unter der persönlichen Aufsicht des Herrschers zerschlagen. Da in Brahmapur neunzig Prozent aller Bauten aus Lehmziegeln bestanden, verwandelte sich die blühende Stadt binnen weniger Monate in einen Trümmerhaufen. Der wahnsinnige Radscha wurde von seinen eigenen Angehörigen vergiftet, da sie einen Aufstand der Bevölkerung befürchteten, ärger als die Empörung der Sepoys.«

»Das hat er verdient, der Judas«, sagte Regnier gefühlvoll. »Es gibt nichts Schlimmeres als Verrat.«

Fandorin wiederholte geduldig seine Frage: »Also, ist das Tuch sehr w-wertvoll, Professor?«

»Ich glaube nicht. Es ist eher eine Rarität, ein Kuriosum.«

»Und warum wurde immer wieder etwas darin eingewickelt, mal der Koran, mal der Schiwa? Hat das Stück Seide vielleicht eine sakrale Bedeutung?«

»Das habe ich nie gehört. Zufall.«

Kommissar Coche stand ächzend auf und reckte die Schultern.

»Tja, interessante Geschichte, aber für unsere Untersuchung gibt sie leider nichts her. Der Mörder wird diesen Lappen kaum als sentimentales Souvenir mit sich herumtragen.« Träumerisch fügte er hinzu: »Das wäre nicht schlecht. Einer von Ihnen, verehrte Verdächtige, holt das Seidentuch mit dem Paradiesvogel aus Zerstreutheit hervor und schneuzt hinein. Dann wüßte der alte Coche, was er zu tun hätte.«

Der Fahnder lachte, er schien seinen Scherz für geistreich zu halten. Clarissa sah den Grobian mißbilligend an. Der fing ihren Blick auf und verengte die Augen.

»Apropos, Mademoiselle Stomp, Ihr hübscher Hut ist der letzte Pariser Schrei. Wann waren Sie das letztemal in Paris?«

Clarissa straffte sich innerlich und antwortete in eisigem Ton: »Den Hut habe ich in London gekauft, Kommissar. Und in Paris war ich noch nie.«

Wo guckte denn Fandorin so gebannt hin? Clarissa folgte seinem Blick und erbleichte.

Der Diplomat hatte ihren Fächer aus Straußenfedern betrachtet, auf dessen Elfenbeingriff mit Goldbuchstaben stand: Meilleurs Souvenirs! Hotel »Ambassadeur«. Rue de Grenelle, Paris.

Welch unverzeihlicher Fehler!

GINTARO AONO

5. Tag des 4. Monats Angesichts der Küste von Eritrea

Unten ein grüner Streifen Meer, In der Mitte ein gelber Streifen Sand, Darüber ein blauer Streifen Himmel. Das sind die Farben Der Fahne von Afrika.

Dieser triviale Fünfzeiler ist die Frucht meiner andert- halbstündigen Bemühungen um seelische Harmonie. Die verdammte Harmonie wollte und wollte nicht zurückkehren.

Ich saß allein auf Deck, blickte auf das trostlose Gestade von Afrika und empfand schärfer als je zuvor meine grenzenlose Einsamkeit. Ein Glück, daß ich seit meiner Kindheit die schöne Gewohnheit habe, Tagebuch zu führen. Als ich vor sieben Jahren zum Studium in das ferne Land Furansu reiste, träumte ich insgeheim davon, daß mein Reisetagebuch eines Tages veröffentlicht wird und mir und dem ganzen Geschlecht der Aonos Ruhm einbringt. Doch leider ist mein Geist gar zu unvollkommen, und meine Gefühle sind gar zu gewöhnlich, als daß diese kläglichen Blätter mit der großen Tagebuchliteratur früherer Zeiten wetteifern könnten.

Gleichwohl hätte ich ohne diese täglichen Aufzeichnungen wohl schon längst den Verstand verloren.

Selbst hier auf dem Schiff, das nach Ostasien fährt, sind nur zwei Vertreter der gelben Rasse - ich und ein chinesischer Eunuch, Hofbeamter 11. Ranges, der nach Paris gereist war, um Parfümeriewaren und kosmetische Neuheiten für die Kaiserin Tz’u-Hsi einzukaufen. Aus Sparsamkeit reist er zweiter Klasse und geniert sich deswegen sehr, und unser Gespräch brach in dem Moment ab, als er mitbekam, daß ich in der ersten reise. Welche Schmach für China! Ich an Stelle des Beamten wäre sicherlich vor Demütigung gestorben. Jeder von uns beiden repräsentiert ja auf diesem europäischen Schiff eine asiatische Großmacht. Ich verstehe den Seelenzustand des Beamten, und doch tut es mir sehr leid, daß er aus Scham seine enge Kabine nicht verläßt - wir könnten miteinander reden. Das heißt natürlich, nicht reden, sondern uns mittels Pinsel und Papier verständigen. Zwar sprechen wir verschiedene Sprachen, aber die Hieroglyphen sind ja die gleichen.

Macht nichts, sage ich mir, halte durch. Es dauert ja nicht mehr lange. In knapp einem Monat sehe ich die Lichter von Nagasaki, und von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zu meiner Heimat Kagoshima. Und wenn auch meine Heimkehr mir Schande und Erniedrigung verheißt, und wenn ich auch zum Gespött meiner Freunde werde, Hauptsache, wieder zu Hause! Schließlich wird es niemand wagen, mich offen zu verachten, alle wissen ja, daß ich den Willen meines Vaters erfüllt habe, und über Befehle diskutiert man bekanntlich nicht. Ich tat, was ich tun mußte und wozu ich verpflichtet war. Mein Leben ist zugrunde gerichtet, aber wenn das für das Wohl Japans notwendig ist... Doch Schluß, genug davon!