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Es waren wohl zwei Minuten vergangen, da hörten wir plötzlich einen gellenden Frauenschrei.

Erstens begriff ich nicht gleich, daß es Kleber-san war, die da schrie. Zweitens ging mir nicht auf, daß das verzweifelte »Os- kur! Oskur!« nichts anderes bedeutete als »Au secours! Au se- cours!«[4] Aber das rechtfertigt nicht mein Verhalten. Ich habe mich schmählich benommen, unwürdig eines Samurai!

Aber der Reihe nach.

Als erster stürzte Fandorin-san zur Tür, gefolgt von dem Polizeikommissar, Milford-Stokes-san und Sweetchild-san, ich aber blieb wie angewurzelt stehen. Sie alle glauben jetzt gewiß, daß in der japanischen Armee klägliche Feiglinge dienen! In Wirklichkeit habe ich nur nicht gleich begriffen, was vorging.

Als ich es endlich begriffen hatte, war es zu spät - ich erreichte den Schauplatz als Letzter, sogar noch nach Stomp-san.

Die Kabine von Kleber-san liegt ganz in der Nähe des Salons, sie ist die fünfte rechts im Korridor.

Hinter den mir Zuvorgekommenen stehend, sah ich ein unwahrscheinliches Bild. Die Kabinentür stand sperrangelweit offen. Kleber-san lag stöhnend auf dem Fußboden, über ihr etwas Schwarzes, Blankes, Unbewegliches. Ich erkannte nicht gleich, daß es ein riesiger Neger war. Er trug eine weiße Leinenhose. Aus seinem Genick ragte der Griff eines Marinedolchs. An seiner Körperhaltung sah ich sofort, daß er tot war. Ein solcher Stoß gegen die Schädelbasis verlangt große Kraft und Präzision, tötet aber blitzartig.

Kleber-san zappelte, um unter dem schweren Leichnam hervorzukommen, doch vergeblich. Neben ihr bewegte sich hektisch Leutnant Regnier. Sein Gesicht war weißer als der Kragen seines Hemdes. Die Dolchscheide an seiner Hüfte war leer. Der Leutnant war ganz durcheinander - bald versuchte er, die unangenehme Last von der schwangeren Frau wegzuziehen, bald wandte er sich uns zu und erklärte verworren dem Kommissar, was geschehen war.

Fandorin-san bewahrte als einziger seine Kaltblütigkeit. Ohne erkennbare Anstrengung zerrte er den Toten beiseite (ich dachte sofort an seine Gymnastik mit den Hanteln), half Kle- ber-san in einen Sessel und gab ihr Wasser. Da kam auch ich zu mir und prüfte in aller Eile, ob Kleber-san verletzt sei, sie war es nicht. Ob sie innere Schäden davongetragen hatte, würde sich später zeigen. Alle waren so erregt, daß die von mir vorgenommene Untersuchung niemanden verwunderte. Die Weißen glauben ja, daß alle Asiaten ein bißchen Schamanen sind und sich auf die Heilkunst verstehen. Kleber-sans Puls lag bei 95, und das war vollauf erklärlich.

Sie und Regnier-san erzählten, einander ins Wort fallend, folgendes.

Der Leutnant: Er habe Madame Kleber zur Kabine begleitet, ihr einen angenehmen Abend gewünscht und sich verabschiedet. Doch er habe sich gerade zwei Schritte entfernt, da hörte er ihren verzweifelten Schrei.

Kleber-san: Sie sei eingetreten, habe die elektrische Lampe angeknipst und vor ihrem Toilettentisch einen gigantischen schwarzen Mann stehen sehen, der ihre Korallenkette in der Hand hielt (die sah ich in der Tat nachher auf dem Fußboden liegen). Der Neger habe sich schweigend auf sie gestürzt, sie zu

Boden geworfen und mit seinen Riesenpranken nach ihrer Kehle gegriffen. Sie habe losgeschrien.

Der Leutnant: Er sei in die Kabine gestürzt, habe die entsetzliche (er sagte: »phantastische«) Szene gesehen und erst einmal den Kopf verloren. Dann habe er den riesigen Neger bei den Schultern gepackt, ihn jedoch keinen Zoll von der Stelle bewegen können. Darauf habe er ihn mit dem Stiefel gegen den Kopf getreten, wieder ohne Erfolg. Erst jetzt habe er, aus Furcht um das Leben von Madame Kleber und ihr Ungeborenes, den Dolch aus der Scheide gezogen und einen einzigen Stoß geführt.

Ich dachte mir, der Leutnant müsse seine stürmische Jugend in Tavernen und Bordellen verbracht haben, wo es von gekonnter Messerhandhabung abhängt, wer am nächsten Morgen mit einem Brummschädel aufwacht und wer auf dem Friedhof landet.

Kapitän Cliff und Doktor Truffo kamen angelaufen. In der Kabine wurde es eng. Niemand hatte eine Ahnung, wie der Afrikaner auf die »Leviathan« gekommen war. Fandorin-san betrachtete eingehend die Tätowierung auf der Brust des Toten und sagte, eine solche habe er schon gesehen. Während des jüngsten Balkankonflikts sei er in türkischer Gefangenschaft gewesen und habe dort dunkelhäutige Sklaven mit den gleichen Zickzackmarkierungen rund um die Brustwarzen gesehen. Es sei ein ritueller Schmuck des Ndanga-Stammes, den arabische Sklavenhändler erst kürzlich im Herzen von Äquatorialafrika entdeckt hätten. Die Ndanga-Männer genossen auf den Märkten des gesamten Orients große Nachfrage.

Ich hatte den Eindruck, daß Fandorin-san all das mit etwas seltsamer Miene sagte, so als ob ihn irgendwas befremdete. Aber ich kann mich auch irren, denn die Mimik der Europäer ist recht wunderlich und ähnelt nicht im geringsten der unsrigen.

Kommissar Coche hörte dem Diplomaten kaum zu. Er sagte, ihn als Vertreter des Gesetzes interessierten zwei Fragen: wie der Neger aufs Schiff gekommen sei und warum er Madame Kleber angefallen habe.

Nun stellte sich heraus, daß bei einigen der Anwesenden in letzter Zeit auf geheimnisvolle Weise Gegenstände aus den Kabinen verschwunden waren. Ich mußte an meinen Verlust denken, schwieg aber natürlich. Des weiteren kam zur Sprache, daß der eine oder andere sogar einen riesigen schwarzen Schatten gesehen hatte (Miss Stomp) oder ein durchs Fenster hereinlugendes schwarzes Gesicht (Mrs. Truffo). Nun ist klar, daß es keine Halluzinationen oder Auswüchse weiblicher Phantasie gewesen sind.

Alle fielen über den Kapitän her. Über jedem Passagier hatte in den letzten Tagen tödliche Gefahr geschwebt, und die Schiffsführung hatte nichts davon gewußt. Cliff-san war schamrot. Sein Ansehen hatte einen empfindlichen Schlag bekommen. Ich wandte mich taktvoll ab, um ihm die Schmach zu erleichtern.

Dann bat der Kapitän die Zeugen des Vorfalls in den Salon »Windsor« und hielt uns eine Ansprache voller Kraft und Würde. Vor allem entschuldigte er sich für das Vorkommnis. Er bat uns, niemandem von dem »bedauerlichen Vorfall« zu erzählen, denn sonst könne es auf dem Dampfer zu einer Massenpsychose kommen. Er versprach, unverzüglich die Laderäume, den Doppelboden, die Vorratsräume und sogar die Kohlebunker durchsuchen zu lassen. Und er versicherte, daß es auf seinem Schiff keine schwarzhäutigen Einbrecher mehr geben werde.

Der Kapitän ist ein guter Mann. Ein richtiger Seebär. Er spricht unbeholfen, in kurzen Sätzen, doch man sieht, daß er ein festes Herz hat und für seine Sache brennt. Ich hörte, wie Truffo-san einmal dem Kommissar erzählte, Kapitän Cliff sei Witwer und hänge mit großer Liebe an seiner einzigen Tochter, die in einem Schweizer Pensionat erzogen werde. Ich finde das sehr rührend.

Es scheint, daß ich ein wenig zu mir komme. Die Zeilen fließen gleichmäßiger, die Hand zittert nicht mehr. Ich kann zum Unangenehmsten übergehen.

Bei der oberflächlichen Untersuchung von Kleber-san war mir aufgefallen, daß sie keine Hämatome hatte. Ich stellte auch ein paar weitere Überlegungen an, die ich dem Kapitän und dem Kommissar mitteilen wollte. Vor allem aber wollte ich die schwangere Frau beruhigen, die nach der Erschütterung noch immer außer sich war und sich in eine Hysterie hineinsteigerte.

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(franz.) Zu Hilfe!