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Der Kommissar (mit beginnender Verärgerung): »Was sind das für Phantastereien? Eine Impfung? Warum sollten die Bediensteten dem erstbesten Spitzbuben glauben?«

Fandorin-san (heftig): »Daß Sie nur nicht in nächster Zeit vom >Ermittlungsführer in besonders wichtigen Fällen degradiert werden zum >Ermittlungsführer in nicht besonders wichtigen Fällen<, Monsieur Coche. Sie studieren Ihre eigenen Materialien nicht aufmerksam genug, und das ist unverzeihlich. Werfen Sie doch nochmals einen Blick in den Artikel aus dem >Soir<, in dem von der Bekanntschaft Lord Littlebys mit der internationalen Abenteurerin Marie Sansfond die Rede ist.«

Der Kommissar kramte in seiner schwarzen Mappe, holte den Zeitungsausschnitt hervor und überflog ihn.

Der Kommissar (achselzuckend): »Na und?«

Fandorin-san (zeigte mit dem Finger): »»Da unten. Schauen Sie, der Anfang der folgenden Notiz: CHOLERAEPIDEMIE IM ABKLINGEN. Da ist die Rede von >energischen prophylaktischen Maßnahmen der Pariser Ärzte<.«

Truffo-san: »»Tatsächlich, meine Herrschaften. Paris hat den ganzen Winter über gegen das wiederholte Aufflackern der Cholera gekämpft. In Dover wurde sogar ein sanitärer Kontrollpunkt für die Kanalfähren aus Calais eingerichtet.«

Fandorin-san: »Darum weckte das Erscheinen eines Arztes bei der Dienerschaft keinerlei Verdacht. Der Besucher trat gewiß sehr sicher auf und sprach überzeugend. Möglicherweise sagte er, es sei schon spät, und er müsse noch mehrere Häuser aufsuchen, oder etwas in der Art. Den Hausherrn mochten die Diener wohl nicht behelligen, da sie von seinem Podagraanfall wußten, doch die Wächter aus dem ersten Stock haben sie natürlich gerufen. Eine Injektion ist schließlich Minutensache.«

Ich war begeistert von dem Scharfsinn des Diplomaten, der die schwierige Aufgabe so leicht gelöst hatte. Auch Kommissar Coche wurde nachdenklich.

»Mal angenommen, es war so«, sagte er mißmutig. »Aber wie wollen Sie den sonderbaren Umstand erklären, daß Ihr Arzt, nachdem er die Diener vergiftet hatte, nicht die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, sondern hinausging, über den Zaun in den Garten kletterte und das Fenster in der Orangerie zerschlug?«

Fandorin-san: »Ich habe darüber nachgedacht. Ist Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen, daß es ja auch zwei Verbrecher gewesen sein können? Der eine beseitigte die Diener, und der andere drang derweil durchs Fenster ins Haus ein.«

Der Kommissar (triumphierend): »Doch, es ist mir in den Sinn gekommen, Herr Klugschwätzer. Zu dieser Schlußfolgerung wollte der Mörder uns ja verleiten. Er versuchte die Spur zu verwischen, das liegt auf der Hand! Nachdem er im Anrichteraum die Diener vergiftet hatte, stieg er die Treppe hinauf und stieß auf den Hausherrn. Wahrscheinlich hatte er das Glas der Vitrine mit Getöse zerschmettert, da er annahm, daß niemand weiter im Haus wäre. Der Lord kam auf den Lärm hin aus dem Schlafzimmer und wurde getötet. Nach diesem außerplanmäßigen Vorfall entwich der Täter eiligst, doch nicht durch die Tür, sondern durchs Fenster der Orangerie. Warum? Um uns zu verwirren und die Sache so darzustellen, als wären sie zu zweit gewesen. Und darauf sind Sie hereingefallen. Aber der alte Coche ist so billig nicht zu kaufen.«

Die Worte des Kommissars wurden beifällig aufgenommen. Regnier-san sagte sogar:»Verdammt, Kommissar, mit Ihnen ist nicht gut Kirschen essen.« (Dieser bildhafte Ausdruck kommt in verschiedenen europäischen Sprachen vor. Er ist nicht wörtlich zu nehmen. Der Leutnant will sagen, daß Coche-san ein sehr kluger und erfahrener Fahnder ist.)

Fandorin-san wartete ein wenig und fragte dann: »Sie haben also die Fußabdrücke unterm Fenster genau studiert und befunden, daß der Mann heruntergesprungen und nicht aufs Fensterbrett gestiegen ist?«

Darauf gab der Kommissar keine Antwort, sah aber den Russen verdrossen an.

Da machte Stomp-san eine Äußerung, die dem Gespräch eine neue, noch schärfere Note verlieh.

»Ein Verbrecher, zwei Verbrecher - ich verstehe noch immer nicht das Wichtigste: Wozu das alles?« sagte sie. »Nicht wegen des Schiwa, klar. Also wozu? Doch wohl nicht wegen des Tuchs, so herrlich es auch sein mag.«

Darauf sagte Fandorin-san, als verstünde sich das von selbst: »Doch, Mademoiselle, eben wegen des Tuchs. Der Schiwa wurde nur zur Ablenkung mitgenommen und gleich von der nächsten Brücke in die Seine geworfen, weil er nicht mehr benötigt wurde.«

Der Kommissar bemerkte: »Für russische Bojaren« (ich habe vergessen, was dieses Wort bedeutet, muß nachschlagen) »ist eine halbe Million Francs vielleicht eine Bagatelle, aber die meisten Menschen rechnen anders. Zwei Kilogramm reinen Goldes wurden also nicht mehr benötigt! Sie haben sich ganz ordentlich vergaloppiert, Herr Diplomat!«

Fandorin-san: »Nicht doch, Kommissar, was ist eine halbe Million Francs gegen die Schätze des Bagdassar?«

»Meine Herrschaften, Schluß mit dem Streit!« rief die verhaßte Madame Kleber launisch. »Ich wäre fast ermordet worden, und Sie reden schon wieder von dieser Geschichte. Während Sie in dem alten Verbrechen kramen, Kommissar, wäre ums Haar ein neues passiert, ohne daß Sie es merken.«

Diese Frau kann es einfach nicht ertragen, wenn sie nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Nach dem gestrigen Vorfall bemühe ich mich, sie möglichst wenig anzusehen - hätte ich doch größte Lust, ihr den Mittelfinger in das pulsierende blaue Äderchen an ihrem weißen Hals zu stoßen. Ein Stoß würde völlig ausreichen, diese Viper zu töten. Aber das gehört natürlich in den Bereich der bösen Gedanken, die ein willensstarker Mensch unterdrücken muß. Nun sind sie in das Tagebuch eingegangen, und der Haß hat ein wenig nachgelassen.

Der Kommissar wies Madame Kleber zurecht. »Schweigen Sie, gnädige Frau«, sagte er streng. »Wir wollen hören, was sich der Herr Diplomat noch ausgedacht hat.«

Fandorin-san: »Die ganze Geschichte macht nur dann einen Sinn, wenn das geraubte Tuch einen besonderen Wert hat. Erstens. Nach den Worten des Professors ist der Wert nicht so groß, also geht es nicht um das Stück Seide, sondern um etwas anderes. Zweitens. Wie wir wissen, hat das Tuch mit dem letzten Willen von Radscha Bagdassar zu tun, dem Besitzer der Schätze von Brahmapur. Drittens. Sagen Sie, Professor, war der Rad- scha ein treuer Diener des Propheten?«

Sweetchild-san (nach kurzem Überlegen): »Das kann ich nicht genau sagen. Moscheen hat er nicht gebaut, Allah hat er in meinem Beisein nicht erwähnt. Der Radscha kleidete sich gern europäisch, rauchte Kuba-Zigarren, las französische Romane. Ach ja, zum Mittagessen trank er Kognak! Mithin hat er die religiösen Verbote nicht allzu ernst genommen.«

Fandorin-san: »Also viertens: Der nicht allzu fromme Bag- dassar hinterläßt dem Sohn als letzte Gabe nicht irgendwas, sondern einen Koran, in ein Tuch gewickelt. Ich vermute, gerade das Tuch war der wichtigste Teil der Sendung. Der Koran diente nur als Vorwand. Vielleicht aber enthielten die Randnotizen von der Hand Bagdassars Instruktionen, wie der Schatz mit Hilfe des Tuches zu finden sei.«

Sweetchild-san: »Warum unbedingt mit Hilfe des Tuches? Der Radscha konnte doch sein Geheimnis in den Marginalien verstecken.«

Fandorin-san: »Er konnte, tat es aber nicht. Warum nicht? Ich verweise Sie auf mein Argument Nummer eins: Wenn das Tuch nicht einen ganz außerordentlichen Wert hätte, wären seinetwegen kaum zehn Menschen ermordet worden. Das Tuch ist der Schlüssel zu den 500 Millionen Rubeln oder, wenn Ihnen das lieber ist, zu den 50 Millionen Pfund, was auf dasselbe hinausläuft. Meines Wissens hat es in der Geschichte der Menschheit noch keinen Schatz dieser Größenordnung gegeben. Übrigens muß ich Sie warnen, Kommissar: Wenn Sie recht haben und der Mörder tatsächlich an Bord der >Leviathan< ist, sind weitere Opfer möglich. Was um so wahrscheinlicher wird, je näher Sie Ihrem Ziel kommen. Gar zu hoch ist der Einsatz und gar zu hoch der Preis, der für den Schlüssel zum Geheimnis gezahlt worden ist.«